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Der Herr der Partien

Seit 500 Wochen beliefert Mark Crowther die Schachwelt zeitnah

von Harald Fietz, Juli 2004

mehr Schachtexte von Harald Fietz

 

   Der Rhythmus der Wahrnehmung der Schachwelt hat sich verändert. Man liest - wie gewohnt - seine Schachzeitung, weil sie Ereignisse mit Analysen und Hintergrund beleuchtet, aber man tankt - ob daheim oder nebenbei im Büro - immer öfter Partien und Informationen im Internet - relativ zeitnah zu Turnieren und sonstigen Schachereignissen, aber in der Regel unverdaut, weil dort vieles als Zweitverwertung aus den Quellen der Veranstalter stammt und im kurzlebigen Tagesgeschäft unreflektiert hin und her rangiert wird. Mehr Nachrichtendarbietung statt Nachrichtenbewertung hat Mark Crowther nie als Widerspruch empfunden; er glaubt, dass elektronische und gedruckte Erzeugnisse gut nebeneinander existieren können: "Fachblätter stehen für die Aufbereitung des Kontexts von Veranstaltungen, guten Journalismus und solide Anmerkungen. Ich denke, viele Zeitschriften haben ihren Standard im letzten Jahrzehnt verbessert. Für das Berichtswesen im Internet sind die Kosten, Exklusivberichte zu erstellen, nicht gerechtfertigt, deshalb gibt es so wenig davon." Seit einer Dekade versteht sich seine Internetseite "The week in chess" (TWIC) als eine Plattform rund um das Spitzenschach (inklusive Partienservice). Nicht immer unparteilich, aber offen auch für Kritiker. "Ich respektiere die Freiheit der Rede, aber ich respektiere nicht die Freiheit des Missbrauchs," kommentierte Crowther trocken, als ihn Großmeister Valeri Salov in Parteinahme für das mittlerweile verschwundene "World Players' Council" attackierte, aber gleichwohl auf TWIC zur Veröffentlichung kam. Da hatte die Webseite längst den Status einer seriösen, globalen Anlaufstelle erobert.

   Begonnen hatte es - wie bei vielen - mit Bobby Fischer, aber nicht in den 70er Jahren, sondern im Nachgang zum Nostalgiematch der Amerikaners gegen Boris Spasski im isolierten Jugoslawien 1992. Der damals 26-Jährige sammelte bereits Schachzeitungen aus aller Welt, doch sein Zugang zum Internet im April 1993 ließ einen neuen, reizvollen Aspekt der Neugier nach Schachinformationen konkret werden: das zeitnahe Erhaschen der Züge - noch am Abend der tagsüber gespielten Partie - weckten im Sportfan die Lust nach mehr Prickeln in zeitlicher Nähe zur dramatischen Konfrontationen. Damals arbeitete er an der Universität seiner Heimatstadt Bradford als Bibliothekar und Audiotechniker im Fachbereich für moderne Sprachen, wo ihm auch die fantastische Welt der ausführlichen Tagesschachkolumnen (z.B. der jugoslawischen "Politika") zugänglich war. Seinen Universitätsabschluss legte Crowther im Fach Informationswissenschaften in Leeds ab, der benachbarten Industriemetropole im sonst ländlich geprägten Norden Englands, den Anglophile als literarische Heimat der Brontë-Schwestern kennen. In den Anfängen erfolgte der Partieaustausch noch über Newsgroups, da er sich als Autodidakt mit den technischen Modalitäten rund um den Computer und das weltweite Netz erst intensiver vertraut machen musste. Neben der Hardware am Arbeitsplatz half damals der Erwerb eines PC mit "schnellem" 286er-Prozessor und ein Datenbankprogramm. Daneben infizierte sich Crowther durch Vorortartikel beim Londoner PCA-WM-Match zwischen Garry Kasparow und Nigel Short 1993 weiter mit dem Berichterstattervirus, schlicht dem Drang, Schach für und mit anderen zu kommunizieren.

   Um dem Hobby jedoch ein Format zu geben, welches für jedermann im World-Wide-Web einfach zugänglich ist und mit standardisierten Daten eine Nutzung im ständig wachsenden, heimischen Datenbestand ermöglicht, bedurfte es der Mithilfe zweier anderer Personen: Steven J. Edwards schuf PGN (Portable Game Notation - eine Art universellen Code für die Lesbarkeit von Schachzügen in Datenbankprogrammen) und Anjo Anjewierden programmierte ein Programm, welches Partiekennziffern Elo-Zahlen hinzugefügt und Namen vereinheitlicht. Viel Zeit ist seither vergangen: "Von Steven habe ich seit Jahren nichts gehört, aber wir sollten ihm alle dankbar sein. Von Anjo bekomme ich mit jeder neuen Veröffentlichung von Wertungszahlen ein Update, so dass ich die korrekten Ratings in die Partien einpflegen kann," resümiert Crowther kurz nach der 500. Lieferung am 7. Juni 2004.

   Am 17. September 1994 hob TWIC ab: Aus dem täglichen Partientausch wurde eine eigenständige Internet-Domäne mit wöchentlicher Partienlieferung und täglichen Meldungen - eine mit der Euphorie des Neuartigen betriebene Kontaktbörse, passend in die Zeit, als die internationale Schacharena mit vielen Schnellschachturnieren eine gewisse Wandlung durchlief. Und die Elektronenhirne begannen Mitte der 90er Jahre, den Supergroßmeistern das Leben schwer zu machen. Anlässlich des Matchs Kasparow-Deep Blue im Jahr 1996 offenbarten sich für Crowther erstmals die Perspektiven von Schach im Internet: Übertragungen, Online-Training und Meldungen - alles Dinge, die uns heuer geläufig sind - nahmen im Zeitalter des Goldrauschs der Internet-Ökonomie im Bezug auf die 64 Felder erst allmählich Dimension an. 1997 wagte Crowther einen Schritt, den er bis heute nicht bereut. Er kündigte seinen Job und etablierte hauptberuflich die TWIC-Seite mit noch mehr inhaltlichen Angeboten. Die finanzielle Unterstützung kam von "Toth", einer kanadischen Firma, die Yasser Seirawans Grandmaster Technology (eine Art von Online-Spielen) vermarkten wollte. Doch nach einem Jahr war die Herrlichkeit vorbei: "Ich habe noch immer einige Aktien von Toth, die sie mir am Ende statt der Bezahlung gaben. Sie sind aus irgendwelchen bizarren Gründen jetzt im Minengeschäft engagiert, aber eigentlich sind die Zertifikate völlig wertlos." Doch statt des Kollaps ergab sich eine Fügung, die bis heute eine stetige Kooperation zeitigt. Das Londoner Schachzentrum, ein Schachbedarfgeschäft von IM Malcom Pein mit vielfältigen Unternehmungen (z.B. Zeitschrift "Chess monthly"), ging eine Sponsorenpartnerschaft ein. Der renommierte amerikanische Schachbuchautor IM John Watson wurde als Rezensent gewonnen und der schottische Schachjournalist John Henderson, der u.a. für "Chess monthly" berichtet, lieferte von verschiedenen Top-Turnieren täglich Reports an TWIC. Eine Basis zum gegenseitigen Nutzen war gefunden - für Crowther eine ideale Kombination, die ihm flexible Arbeitsstunden erlaubt. Durchschnittlich 1000 bis 2000 Partien pro Woche sucht er für die Schachfans zusammen.

   2001 legte er bei Everyman in dem Buch "Chess on the Net" seine Bilanz über Entwicklung und Vision des Schachsports in der virtuellen Welt vor. In der Präsentation sei Schach heute gut positioniert, doch die interessengebundenen, schachpolitischen Streitigkeiten um Weltmeister und Austragungszyklen hemmen ein Angebot, welches mehr als jene eingeschworenen Anhänger erreicht, die ohnehin mit Leidenschaft dabei sind. Wehmütige Gedanken umtreiben Crowther bisweilen: "Was für ein Traum wäre es gewesen, die Begegnung Fischer - Spasski bei der Olympiade in Siegen 1970 mit der heutigen Internet-Infrastruktur darzubieten." Doch bisweilen bleibt - mit einer Wertungszahl um 2000 - das eigene Klötzchenschieben samstags im Yorkshire Woodhouse Cup oder dienstags im Club. Im Internet spielt er kaum, denn "da unterhalte ich mich lieber". So findet Crowther denn keine Partie für eine Veröffentlichung wert: "My chess is pretty trashy," meint er bloß. Im Gegensatz dazu ist sein Lebenswerk im Internet wahrlich kein "Schund". Vielleicht liegt es an seiner einfachen Formel: "Ich liebe das Spiel und den Sport. Ich biete nur solche Informationen an, die ich selbst gerne sehen würde." Es bleibt zu wünschen, dass dies bei Ausgabe Nummer 1000 immer noch gilt!

 

 

(erschien zuerst in Schachmagazin 64, Nr. 12 / 2004, S. 335)


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