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Sympathischer Knirps ohne Flausen im Kopf

Anish Giri: Der jüngste Großmeister der Welt hegt Zweifel an einer Profi-Karriere / Weltmeister Anand neues Vorbild nach Kasparows Rücktritt

Von FM Hartmut Metz, 3. Oktober 2009

 

Anish Giri ist sich sicher: Wenn er immer so schwach spielt wie beim 13. Neckar-Open in Deizisau, dann verzichtet er lieber darauf, Schach-Profi zu werden. Obwohl der gebürtige St. Petersburger erst 14 ist und damit als der jüngste Großmeister auf dem Planeten gilt (die FIDE listet ihn trotz aller erfüllten Normen noch nicht als solchen), hat das Kind keine Flausen im Kopf. Der kleine Junge lacht viel, wirkt dennoch überlegt und redet durchdacht wie ein Erwachsener. "Natürlich kann man auch mit 2500 Elo Profi sein - aber davon zu leben, das bleibt schwierig", weiß das Talent. Seine Einsicht wird am Neckar bestätigt: Trotz der 2517 Elo landet Giri mit 5,5/9 nur auf Platz 60 unter 358 Teilnehmern im A-Open.

"Ich bin nicht zufrieden", resümiert der FIDE-Meister und betreibt umgehend Ursachenforschung. "Zwei Partien am Tag waren schwer für mich. In der zweiten Partie machte ich oft nur einfach Züge, anstatt richtig nachzudenken. Ich konnte mich auch nicht richtig vorbereiten wegen der Kürze der Zeit zwischen den Runden. Daher wirkte es sich auch nachteilig aus, mit Schwarz zu spielen." Ausreden schützt Giri nicht vor und gibt zu, "mir gelang es allerdings auch nicht, Positionen aufs Brett zu bekommen, die ich mag".

An seinem Status als Wunderkind ändert das enttäuschende Ergebnis nichts. Junge Fans drängten sich gerne an ihn heran, um für ein Erinnerungsfoto zu posieren. Gerne und geduldig gesellte sich der fröhliche Bursche zu den Gleichaltrigen - vor nicht allzu langer Zeit freute sich schließlich Giri noch über ein bisschen Aufmerksamkeit von Stars der Szene. Besonders Wassili Iwantschuk mag er deswegen. Als ihn seine Eltern beim Turnier in Wijk aan Zee besuchten, wo der Knirps im C-Turnier triumphierte und seine letzte GM-Norm unter Dach und Fach brachte, ging er mit seiner Familie in ein Restaurant. In der Nähe dinnierte Iwantschuk. "Er hatte Fleisch bestellt. Ihm war's jedoch zu viel. Deshalb bot er es uns an", erzählt der Emsdettener Bundesligaspieler. Den Ukrainer schätzt er aber nicht erst seit der Offerte. Auf die Frage, ob er vom WM-Titel träume und sich diesen zum Ziel setze, antwortet Giri tiefgründig: "Ich träume nicht davon, Weltmeister zu werden. Wenn ich so viel wie Iwantschuk erreiche", sagt der Junge und fügt mit einem Augenzwinkern angesichts des Kauzes ein "ich meine nur im Schach" hinzu, "dann wäre ich glücklich! Ruslan Ponomarjow war zwar schon Weltmeister, er spielt aber eindeutig schwächer als Iwantschuk." Sein Vorbild bleibt allerdings Viswanathan Anand, dessen Stil er seit dem Rücktritt von Garri Kasparow am meisten schätzt.

Erstmals in Berührung mit Schach kam der Sohn des nepalesischen Hydrologen Sanjay und der Russin Olga im Alter von fünf. "Meine Mutter zeigte mir die Gangarten der Figuren - ich verstand sie aber nicht." Zum sechsten Geburtstag erhielt der Knabe eine allgemeine Enzyklopädie. "In der stand auch etwas über Schach. Meine Mutter zeigte mir das Spiel dann nochmals. Ich spielte zunächst fürchterlich! Ich hatte eine Verluststellung, woraufhin meine Mutter das Brett drehte - und ich verlor dennoch ...", erinnert sich Giri. Vater Sanjay "weiß zwar, wie die Figuren ziehen und gewann einmal gegen Mama - doch danach trat er nie mehr gegen sie an", erzählt der 14-Jährige und urteilt, "meine Mutter spielt für einen Laien gut." Sie ist heute 36, seine Schwestern Natascha und Ajuscha zehn beziehungsweise fünf. Bei Vater Sanjay weiß man es nicht ganz genau. "Meine Oma erzählt etwas anderes, als in den Dokumenten steht. Selbst die zwei Reisepässe meines Vaters widersprechen sich", erläutert Anish und taxiert das Alter von Sanjay Giri auf 38 bis 41.

Anish ging bald in einen Klub in St. Petersburg. Auch Tischtennis spielte er im Verein, die Trainer - vor allem förderte ihn der starke FM Andrej Praslow (2402 Elo) - bescheinigten ihm jedoch größeres Talent für das königliche Spiel. Bis acht lebte er in der alten Zarenstadt, dann zog es die Familie aus beruflichen Gründen nach Japan. Dort fehlte es Giri an Trainingspartnern, auch wenn er einmal im Monat einen Schachklub besuchte. Er übte im Internet und bildete sich selbst durch Bücher fort. Das reichte, um auf Hokkaido die U9-Meisterschaft zu gewinnen. Der erste größere Erfolg war der Sieg bei der U12-Meisterschaft in Russland, als er noch in Japan lebte, und der geteilte dritte Platz bei der U12-EM folgte. Nach einem Intermezzo in Russland verschlug es seinen Vater 2008 an eine neue Forschungsstelle bei Delft. In den Niederlanden machte Anish rasch sein Großmeister-Glück: Im April 2008 gelang ihm in Hilversum die erste GM-Norm. "Ein besonders wichtiger Erfolg", findet Giri auch noch ein Jahr danach.

Die zweite Norm stammt aus Groningen Ende 2008, ehe ihn im Februar der Sieg in der C-Gruppe in Wijk aan Zee mit 14 Jahren, sieben Monaten und zwei Tagen zum aktuell jüngsten Großmeister beförderte. Weil er kaum mehr in Russland weilt und deswegen auch keine Förderung erhielt, wechselte der Neu-Holländer vor wenigen Wochen die Föderation. "Mit Daniel Fridman und Tibor Karoly trainierte ich bisher einmal. Mein hiesiger Verein HMC Den Bosch bezahlt mir die Trainer." Wieso er sich auch ohne einen regelmäßigen Coach gewaltig steigerte, bleibt Giri ein Rätsel. "Ich machte nichts Besonderes, außer dass ich an meinen Eröffnungen feilte. Manchmal spiele ich gut, manchmal nicht, so wie hier in Deizisau." In der Bundesliga tritt der Jungstar für Emsdetten an. Mit 7/11 brillierte er. "Das Ergebnis ist okay - aber meine einzige Niederlage gegen Etienne Bacrot wurmt mich. Auf seiner Webseite hat er die Partie nicht richtig kommentiert. Ich stand total auf Gewinn", zeigt sich Giri ehrgeizig. Beim SK Turm hat er bereits für die kommende Saison zugesagt, "weil ich vorne spielen darf. An Brett eins bis drei, je nach unserer Aufstellung. Auf die starken Gegner freue ich mich schon".

Ungeachtet der Erfolge auf den 64 Feldern und den Reisen mit Bekannten zu Turnieren - die Mutter betreut meist die kleinen Schwestern zu Hause - verliert der Shootingstar die Schule nicht aus den Augen. "Ich habe in der zweiten Klasse auf dem Gymnasium gute Noten. Nur Deutsch ist mein Problemfach", gesteht das Sprachtalent, das auf Grund seiner bewegten Kindheit außer Russisch auch Englisch beherrscht. "Japanisch vergesse ich langsam. Nepalesisch verstehe ich ganz gut, traue mich aber kaum zu reden", führt Giri aus. Holländisch lernt der 14-Jährige als Ausländerkind "noch mit einem Privatlehrer. Das ändert sich jedoch im nächsten Schuljahr". Seine Lieblingsfächer sind Mathe, Geographie und Geschichte. In den beiden letzteren Fächern mag Anish allerdings nur einzelne Bereiche. "Das Wetter interessiert mich in ,Geo' kaum, in Geschichte bevorzuge ich bestimmte Epochen", bekennt der Hobby-Tischtennis- und -Fußballspieler und ergänzt, "Physik mag ich auch, aber da bin ich nicht der Beste." Die Schule und ein Studium behält der Großmeister in spe jedenfalls fest im Visier.

Das bleibt so, "selbst wenn ich nächstes Jahr die 2600 knacke und dann über fünf Jahre stagniere. Dann sollte ich es als Profi sein lassen", besitzt der Knabe erstaunlich viel Realitätssinn. Sicher, schiebt die Nummer 624 der Weltrangliste nach, "ich bin nicht unglücklich, derzeit der jüngste Großmeister der Welt zu sein - doch das ändert sich irgendwann und der Stolz verfliegt". Obwohl Giri früher als Bobby Fischer die Normen gesammelt hat, scheut er jeglichen Vergleich mit dem Genie. "Nö, damit kann ich mich nicht vergleichen. Auch nicht mit Karjakin oder Carlsen", betont der 14-Jährige und möchte sein Augenmerk darauf legen, besser zu werden. Genauer: "stark zu werden". Was bedeutet dies genau? "Ich meine sehr stark! Stark bedeutet für mich mindestens 2700." Dann würde auch Anish Giri sicher sein, das Rüstzeug zum Profi zu haben.


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