Draufgänger und keine SchlafmützenRuslan Ponomarjow jüngster Schach-Champion aller Zeitenvon Hartmut Metz, März 2002 |
Vor der segensreichen Erfindung der Schachuhr, die die Bedenkzeit begrenzt, zermürbte mancher Spieler im 19. Jahrhundert seinen Gegner durch stundenlanges Sinnieren über einem einzigen Zug. Bei solch einem Duell notierte der Schiedsrichter gar einst: "Beide Spieler schlafen." Noch heute erinnern regungslos dasitzende Schachspieler den unbedarften Betrachter an "Schlaftabletten". Das krasse Gegenteil ist der Fall, wie eine vor kurzem veröffentlichte Studie der Seattle Pacific University ergab. Jeff Joireman stellte bei der Untersuchung von über 100 Schachspielern fest: Es handelt sich um wahre Teufelsbraten, die auf der steten Suche nach dem ultimativen Adrenalinkick sind.
Der Sozial-Psychologe konstatierte, Schach ziehe dabei besonders dem "Nervenkitzel" verfallene "Abenteurer" an. Bei einem am seidenen Faden hängenden Sieg schüttet der Körper eines äußerlich ruhigen Grüblers so viel Testosteron aus wie bei Extremkletterern oder Fallschirmspringern. Schach sei weniger ein Spiel als "Krieg auf 64 Feldern mit Figuren, die kleinen Kampfeinheiten entsprechen". Der Sieger verspüre Gefühle von Triumph und Dominanz, heißt es im "Journal of Personality and Individual Differences".
Um dem auf den Grund zu gehen, unterzogen die Psychologen Schachspieler wie Nicht-Schachspieler einem weiteren Test. Bezüglich der Sucht, am Rand des Abgrunds zu wandeln, verbuchten erneut die Schachspieler die meisten Zähler, womit die Forscher ihr erstes Ergebnis bestätigt sahen. Ergänzend stellte Joireman fest: "Regelmäßige Turnierspieler punkten in den Bereichen unkonventionelles Denken und Paranoia am höchsten - beides gilt auch für Personen, die permanent den Nervenkitzel suchen."
Besonders exaltierte Großmeister der Spezies tummelten sich in den vergangenen zwei Wochen in Linares. Ein spanisches Kaff zum Einschlafen - wenn nicht gerade Schach gespielt wird. Im Wimbledon der Denkstrategen feierte Garri Kasparow seinen achten Turniersieg. Nach einigen Tobsuchtsanfällen, weil ihm die Gegner reihenweise ins Remis entschlüpften, sprudelte am Ende doch noch das Testosteron massenweise in den Körper des Weltranglistenersten. Die Hormone werden den 37-Jährigen besonders nach seinem Sieg in der vorletzten Runde beglückt haben.
Das "Ungeheuer von Baku" hatte Ruslan Ponomarjow im Zaum gehalten, der sich zuvor zweifacher Majestätsbeleidigung schuldig gemacht hatte: Zum einen ließ er den zur Analyse bereiten Kasparow nach dem Remis in der ersten Partie wortlos stehen. Eine Retourkutsche für den Spott, den der Moskauer nach dem WM-Gewinn des 18-jährigen Ukrainers via eigener Internet-Seite verbreitet hatte. Zum anderen lag Ponomarjow bis zum zweiten Duell mit Kasparow gleichauf. Auch wenn der Ex-Weltmeister seine Dominanz mit acht Punkten aus zwölf Partien unterstrich, darf der Champion des Weltverbandes FIDE (6,5) Platz zwei als großen Erfolg verbuchen. Sein neuer Intimfeind hatte vorher gehöhnt, Ponomarjow werde bei seinem ersten Turnier im Kreis der Arrivierten das Fell über die Ohren gezogen.
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Kasparov,G (2838) - Ponomariov,R (2727) [C10]
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Einen halben Zähler weniger als der junge Stoiker, der selten lacht, sammelten Viswanathan Anand (Indien), Wassili Iwantschuk (Ukraine) und Michael Adams (England). Missmutig machte der Wettbewerb Alexej Schirow, dem Niederlagen ähnlich aufs Gemüt schlagen wie Iwantschuk. Mit nur 4,5 Punkten wurde er Letzter, noch hinter seinem spanischen Landsmann Francisco Vallejo Pons (5). Ein ansprechendes Debüt des Weltranglisten-60., war er schließlich doch der einzige Teilnehmer außerhalb der Top Ten.
Dem Ex-Jugend-Weltmeister unterlief gegen Iwantschuk der schlimmste Patzer seiner Karriere, der in Sekundenschnelle bestraft wurde. Vallejo Pons fühlte dabei, "wie mein ganzer Körper mit Adrenalin durchflutet wurde und ich den Drang verspürte, gewalttätig zu werden". Der 19-Jährige bestellte jedoch ein Wasser, leerte es langsam, bis er nach zehn Minuten die Hand seines Kontrahenten zur Gratulation schüttelte und wortlos auf sein Zimmer entfloh. Dort schaltete er vom königlichen Spiel auf "König Fußball" um: Im Fernsehen lief das Pokal-Endspiel zwischen seinem Lieblingsklub Real Madrid und Deportivo La Coruna. "Die Königlichen" verloren das Finale zu ihrem 100. Geburtstag mit 1:2. Fußball ist eben nicht richtig prickelnd - zumindest nicht für solche Draufgänger wie Schachspieler.
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Ivanchuk,V (2717) - Vallejo Pons,F (2629) [B42]
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