Dautov wollte schon aufgebenBaden-Oos schafft im dramatischen Bundesliga-Schlager gegen Porz ein überraschendes 4:4 / Stichkampf um den Titel an gleicher Stätte im Mai?von FM Hartmut Metz, April 2004 |
Die Baden-Ooser Schachspieler strahlten. "Super, super, super", wiederholte Kapitän Thilo Gubler immer wieder, während er quer durch den Spielsaal zu Rustem Dautov eilte. "Wahnsinn!", befand Ersatzmann Fabian Döttling, ehe der Großmeister erleichtert fortsetzte, "doch noch ein 4:4 trotz der beiden Patzer an den hinteren Weiß-Brettern!" Mit dem Remis gaben die Kurstädter zwar zum zweiten Mal in dieser Saison einen Punkt ab, aber das 4:4 gegen die SG Köln-Porz könnte Gold wert sein. Entsprechend niedergeschlagen gaben sich die an diesem Tag favorisierten Gäste. "Ich bin sehr, sehr enttäuscht. Der Kampf hätte gewonnen werden müssen. Baden-Oos ohne vier muss man schlagen. Einige Leute haben versagt", nahm der Grandseigneur des deutschen Schach-Sponsorings, der ehrgeizige Wilfried Hilgert, wie gewohnt kein Blatt vor den Mund.
Im Spitzenspiel der Bundesliga musste schließlich der SC Baden-Oos ohne seine beim Schnellturnier in Monaco weilenden Asse Viswanathan Anand, Peter Swidler, Alexej Schirow - die Nummer drei bis fünf in der Welt - sowie Francisco Vallejo Pons (Nr. 33) antreten, während auf der Seite des Gastes lediglich Loek van Wely fehlte (Nr. 79). Doch dafür stachen beim Außenseiter andere Trümpfe. Robert Hübner und Roland Schmaltz glichen ausgerechnet gegen zwei der nominell stärksten Porzer, Ivan Sokolov und Michail Gurewitsch, die Niederlagen von Rainer Buhmann gegen Rafael Waganjan und Andreas Schenk gegen Erik van den Doel aus.
Damit bleibt Baden-Oos mit 24:2 Punkten - tags darauf ließ das Oktett ein 5,5:2,5 gegen Katernberg folgen - vor Porz (22:2), das seinen Frust nicht richtig an Absteiger Stuttgart auslassen konnte. Eher wurde gegen das punktlose Schlusslicht ein 8:0 oder 7,5:0,5 erwartet als das 6,5:1,5. Beim glatten Sieg der Baden-Ooser über Katernberg punkteten Michal Krasenkow, erneut Schmaltz, Rainer Buhmann und Andreas Schenk. Bemerkenswert waren zwei weitere Resultate: So schnell wie Krasenkow Sergej Smagin dank eines Qualitätsopfers überrollt hatte, so schnell kassierte Philipp Schlosser seine erste Saison-Niederlage. Der bisher fleißigste Punktesammler des Spitzenreiters (bis dahin 7,5/10) ging im Angriffswirbel von Martin Senff unter. Dafür bremste Dautov wenigstens Andrej Wolokitin mit einem Remis aus. Der Jungstar aus der Ukraine hatte am Samstag beim Katernberger 7:1 über die Stuttgarter SF gegen den chancenlosen Eckhard Schmittdiel seine glänzende Bilanz am ersten Brett auf 7,5/10 geschraubt.
Wegen des Rückzugs von Meister Lübeck muss Baden-Oos lediglich noch einmal antreten. Sollte der Tabellenführer am 25. April sein letztes Spiel gegen Hamburg gewinnen und auch der Verfolger zu Hause Werder Bremen und die Bremer SG schlagen, käme es bei Punktgleichheit am 8. oder 9. Mai zu einem Stichkampf um die deutsche Meisterschaft. Die Brettpunkte kommen zum Leidwesen der Porzer nicht zum Tragen. "Wir würden gerne dieses Endspiel ausrichten", blickte Gubler bereits voraus und will sich dafür ebenso bewerben wie für das gleichzeitig "drohende" Finale bei den Damen. In der Frauen-Bundesliga liefern sich Meister Baden-Oos und Turm Emsdetten ebenso ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Hilgert mag sich noch nicht damit befassen. "Wir haben zwei starke Kontrahenten vor uns. Wenn wir so spielen wie hier, verlieren wir zweimal. Von der Besetzung her sind beide Bremer Teams stärker als die Baden-Ooser in unserem Kampf!", führte der Hennefer Immobilien- und Reederei-Magnat aus.
Linares? 80 Prozent Punkteteilungen? Schluss mit Remisgeschiebe? Die Recken schienen in Baden-Baden den Spruch des nur unweit entfernt wohnenden Kuppenheimer FM Hans Wiechert zu beherzigen. Als der Eppinger Torsten Schulte im Oberliga-Kampf seinem Kuppenheimer Kontrahenten Günther Tammert im Endspiel mit Minusbauer ein Unentschieden anbot und sich gleichzeitig Tobias Wenner bei Wiechert erkundigte, wie es denn mit einem Friedensschluss stehe, erklärte dieser ohne eine Sekunde zu zögern: "Sorry, wir sind hier nicht in Linares!" (Wiechert gewann dann auch folgerichtig zum 4,5:3,5). Das Duell der Duelle im Firmenkomplex von Sponsor Grenke Leasing AG bot ebenfalls Einsatzwillen pur! Die etwa 150 Zuschauer haben wohl selten solch eine kämpferische Einstellung gesehen - und schon gar nicht von den "Kurzarbeitern" aus Oos, die im Vorjahr hartnäckig am Ruf als Remisschieber gefeilt hatten. Erst nach 3:15 Stunden endete die erste Partie zwischen Schlosser und dem deutschen Einzelmeister Alexander Graf ausgekämpft mit einem Dauerschach. "Ich kann von Glück reden, dass ich die Partie remis hielt. Den Vorstoß e5 hatte ich völlig verpennt", räumte Schlosser ein.
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Schlosser,P - Graf,A [D45]
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Zufrieden durften die Einheimischen auch sein, dass Krasenkow nach rund vier Stunden Alexander Beljawski einen halben Zähler abtrotzte. Zwar beklagte der ehemalige Top-Ten-Spieler aus Polen zwei verpasste Chancen auf "dauerhaften Vorteil", doch Beljawski führte die weißen Steine, ist als 30. in der Weltrangliste 60 Plätze höher notiert und hatte bis dato mit 6,5/7 die höchste Bundesliga-Performance der Saison (exakt 2900!) verbucht.
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Beljawski,A - Krasenkow,M [E04]
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Noch klarer sprachen die Vorzeichen gegen Schmaltz (2527 Elo). Doch der mehrfache Internet-Weltmeister sorgte für den ersten Höhepunkt. Gegen Gurewitsch (2656) wehrte er einen Angriff kühl mit einem doppelten Qualitätsopfer im 32. und 33. Zug ab und brachte seine Farben mit 2:1 in Front. Das war nach 4:51 Stunden! "Bisher war Suat Atalik mit 2599 Elo mein bisher größter Skalp. Heute bezwang ich zum ersten Mal in einer Turnierpartie einen Super-Großmeister", jubilierte Schmaltz. Die Partie war auch noch aus einem anderen Grund einmalig: Die beiden Kontrahenten opferten viermal die Qualität!
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Gurewitsch,M - Schmaltz,R [A30]
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Trotz der Führung stand der Gastgeber das ganze Duell über mit dem Rücken zur Wand. Der schwedische Großmeister Ulf Andersson versorgte Hilgert regelmäßig mit Stellungseinschätzungen, die eine rosige Zukunft versprachen. Auf der anderen Seite blickte der Ooser Ersatzmann Fabian Döttling sorgenvoll nach vorne. "Wir verlieren 3,5:4,5 oder 3:5", prognostizierte der frisch gebackene Großmeister. Deswegen hatte Hilgert Sokolov angewiesen, Hübner ein Remis zu offerieren. Zudem schwor der Porzer Chef-Einpeitscher Erik van den Doel ein: "Kämpfen, kämpfen!" Zumindest bei dem Niederländer half das. Am letzten Brett lehnte van den Doel die Remisofferte Schenks in einem minimal besseren Turmendspiel ab. Prompt manövrierte der IM seinen Turm ins Abseits und unterlag.
Buhmann war gegen Mr. Bundesliga, Rafael Waganjan, chancenlos. Der Porzer Punktegarant, der beim Aeroflot Open als Zweiter seine derzeit glänzende Form unterstrichen hatte, kassierte eine Qualität ein. Nach weiteren unpräzisen Zügen war die zweite Ooser Weiß-Niederlage an den hinteren Brettern perfekt.
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Buhmann,R - Waganjan,R [E08]
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Nur Ludger Keitlinghaus verteidigte sich an Position sieben gegen Curt Hansen umsichtig und brachte ein Unentschieden in die Scheuer. "Es gab keinen klaren Gewinn, auch wenn das Damen-Endspiel sehr gefährlich für Schwarz war. Doch Keitlinghaus verteidigte sich sehr präzise", bedauerte der Däne.
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Hansen,C - Keitlinghaus,L [C44]
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Beim 2,5:3,5 sah es ganz schlecht für die Gastgeber aus. Am zweiten Brett hatte zwar Hübner den Weltranglisten-16. Sokolov in der Mangel, doch ganz vorne zeichnete sich ein Sieg von Christopher Lutz über Dautov ab. Also 4,5:3,5 für Porz? "Ich wollte schon im 40. Zug aufgeben. Nach 42.Sxf7 oder Txf7 muss es für Schwarz aus sein", gestand die Ooser Nummer eins an diesem Tag. Immerhin ließ Hübner nach rund sechs Stunden den Funken Hoffnung noch glimmen.
Trotz des reduzierten Materials (jeder Seite war nur ein Bauer, die Dame, ein Turm und eine Figur verblieben) schloss der 55-Jährige vor einer Traube von Kiebitzen seinen Angriff mit dem Matt zum 3,5:3,5 ab. Während der "Doc" gewohnt nüchtern seinen "sensationellen Sieg" (Döttling) analysierte, verdrückte sich Sokolov für eine Viertelstunde nicht ansprechbar in eine Ecke des Bewirtungsraumes und haderte im Stehen sichtlich mit seinem Schicksal. Auch Mannschaftskamerad Andersson konnte den Bosnier mit niederländischem Pass nicht von den quälenden Gedanken befreien. "Hübner wollte doch nur ein Remis. Ich spielte zu sehr auf Gewinn - und bekam die Quittung", haderte Sokolov. Dass er erst die Nacht zuvor aus Sibirien vom gerade beendeten 5. Karpow-Turnier in Poikowski eingeflogen war, wollte er nicht als Ausflucht akzeptieren. "Der Flug war's nicht, auch wenn er sicher kaum hilfreich war."
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Hübner,R - Sokolov,I [D15]
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Leben kehrte erst wieder in den Großmeister mit 2706 Elo zurück, als ihn kurz das Endspiel von Lutz gegen Dautov elektrisierte. Sah er mehr als die anderen? Krasenkow nämlich schüttelte ungläubig den Kopf angesichts der neuen Situation am ersten Brett, wo sich Dautov gerade daran machte, auch den zweiten Minusbauern zurückzuholen. "Es war völlig hoffnungslos, aber jetzt sieht's wie Remis aus", befand der Pole. Die Mienen von Waganjan&Co. verfinsterten sich auch wieder umgehend.
Sokolovs Hoffnungsschimmer im 68. Zug hatte sich als Fata Morgana entpuppt, Lutz offerierte zwei Züge später enttäuscht das Unentschieden zum 4:4. "Ich fand nach dem 40. Zug keinen klaren Gewinn und verbrauchte nur viel Bedenkzeit", berichtete der Porzer Spitzenspieler, "anschließend versemmelte ich die Partie schrittweise. Das Endspiel war schon nicht mehr so toll." "Christopher hätte auf a3 nicht den zweiten Bauern gewinnen sollen. Dann bleibt mein Turm passiv in der Verteidigung. Mit der Königswanderung auf den Damenflügel hätte er wohl gute Gewinnchancen gehabt", befand Dautov und resümierte während der Glückwunschbezeugungen seiner überschwänglichen Kameraden, "ich stand so schlecht! Das Mittelspiel behandelte ich grauenhaft. Ich hätte aufgeben können und war mir sicher, dass ich verliere."
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Lutz,C - Dautov,R [C42]
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Der Baden-Ooser Kapitän Gubler frohlockte angesichts des mitreißenden Duells mit glücklichem Ausgang für seine Acht: "Ich wusste schon, dass unsere Mannschaft stark ist - aber so stark! Mit dem Sieg von Robert Hübner und einem 3,5:4,5 hätten wir uns gut verkauft. Das Remis von Rustem Dautov war das Bonbon! Mit einem 4:4 hatten wir nur insgeheim gerechnet." Asche streute derweil Hilgert auf sein Haupt. "Ich hätte Sokolov nicht einsetzen dürfen. Die Umstellung nach dem Flug aus Sibirien, wo es minus 30 Grad hatte, war für ihn zu viel. Der war völlig fertig und hat zehn Tassen Kaffee getrunken, um wach zu bleiben", urteilte der Porzer Sponsor und ärgerte sich über den verpatzten Aufstellungspoker, "statt Sokolov hätte Andersson an Brett zwei Remis gemacht."
Dagegen machte van den Doel die schlechte Bilanz der Anziehenden für die verpasste Vorentscheidung um die deutsche Meisterschaft verantwortlich. "Wir dachten, dass wir an den weißen Brettern drücken. Gurewitsch ist ansonsten mit Weiß sehr stark", äußerte der Niederländer mit Blick auf den verschenkten Anzugsvorteil bei Lutz, Beljawski, Gurewitsch und Hansen.
Die Einschätzungen, ob es überhaupt zum Stichkampf um den Titel kommt, variieren. An einem Baden-Ooser Erfolg über den Hamburger SK zweifelt niemand. "Da haben wir wieder einige Topleute dabei", kündigte Gubler an. Während van den Doel und Hilgert vor den zwei Bremer Mannschaften Ehrfurcht zeigen, will Lutz die Scharte unbedingt auswetzen. "Wir müssen gegen die Bremer gewinnen." Sein Widersacher Dautov sieht darin auch kein Problem. "Porz wird beide Teams schlagen", ist sich der Baden-Ooser sicher. Die Rollen im Stichkampf sehen van den Doel ("Die wären dann Favorit") und Lutz ("Dann sind unsere Chancen natürlich nicht mehr so gut wie heute") neu verteilt. Vorausgedacht hat bereits Hilgert. "Unsere Chancen hängen von der Besetzung ab. Die französische Liga spielt an dem Wochenende, zudem finden andere Turniere statt", machte sich der 70-jährige Porzer Macher kundig. In sein Team könnte zumindest Loek van Wely rücken. Gewiss ist der Tilburger kein Anand oder Schirow - aber auch gegen solche Top-Großmeister immer für eine Überraschung gut. Ungeachtet aller vagen Prognosen freut sich Dautov auf einen "tollen Stichkampf". Sollten die Akteure dann erneut dermaßen unternehmungslustig zu Werke gehen wie im Spitzenspiel, das diesen Namen verdient, dürfen sich die Fans auf ein weiteres Schachfest freuen. Linares ist (remis)tot, es lebe die Bundesliga!
Nachstehend noch vier Partien von den anderen Kämpfen. Zunächst die spektakulären Kurzsiege des Bundesliga-Topscorers Wolokitin über Stuttgarts Schmittdiel und der Erfolg von Sebastian Siebrecht, der gegen Gerhard Lorscheid einmal mehr seine originelle wie scharfe Spielweise bewies.
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Wolokitin,A - Schmittdiel,E [B30]
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Siebrecht,S - Lorscheid,G [E90]
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Während in dem einseitigen Duell am Sonntag Porz ohne große Höhepunkte Stuttgart schlug, kassierte Schlosser seine erste Saisonniederlage. In noch weniger Zügen setzte sich dafür sein Mannschaftskamerad Michael Krasenkow gegen Sergej Smagin durch.
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Krasenkow,M - Smagin,S [E04]
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Senff,M - Schlosser,P [B54]
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