Deutsche brüten, während sich Kramnik die Beine in den Bauch stehtWeltmeister schlägt Nationalmannschaft mit 2,5:1,5 / Dannemann sponsert WM gegen Leko im Septembervon FM Hartmut Metz, Februar 2004 |
Doppeltes Simultan? Christopher Lutz (links) kann sich auch die Beine in den Bauch stehen.
Wladimir Kramnik fühlt sich jetzt endlich wieder "gut und glücklich". Ein bisschen lag es auch daran, dass der Schach-Weltmeister in Brissago die deutsche Nationalmannschaft mit 2,5:1,5 geschlagen hatte. Mehr zu den Frühlingsgefühlen am sonnigen Lago Maggiore trug jedoch das Ende der Ungewissheit bezüglich seines WM-Kampfes gegen Peter Leko bei. Nach drei Jahren ist endlich ein potenter Sponsor für das Match gegen den Ungarn gefunden. Es ist derselbe Zigarren-Hersteller, der den Russen in die Schweiz lockte, um gegen die vier deutschen Großmeister anzutreten. Ob sich der Weltmeister und sein Herausforderer auch im Centro Dannemann gegenübersitzen, lässt Carsten Hensel offen. Der Kramnik- und Leko-Manager aus Dortmund berichtete, dass sich nach dem gesicherten Preisfonds (in geschätzter stattlicher sechsstelliger Höhe) sogleich Interessenten aus den Heimatstädten der beiden Denkakrobaten, Moskau und Budapest, sowie aus Belgrad und Abuja (Nigeria) meldeten. Exakter Preisfonds und Spielort werden im April bekannt gegeben. Hans Joseph Maria Leusen, Präsident von Dannemann Brasilien, hielt sich wegen des Spielortes ebenfalls bedeckt. Der niederländische Honorarkonsul im brasilianischen Salvador/Bahia, wo das Unternehmen Dannemann 1873 gegründet wurde, äußerte: "Zum Spielort möchte ich vor April nichts sagen." Auf die Entgegnung, dass sich angesichts des Ambientes Brissago erneut anböte, lachte Leusen allerdings vielsagend. Auf jeden Fall steht schon der Termin fest, bei dem sich eine Überschneidung am letzten Wochenende mit der Schach-Olympiade laut Hensel "nicht vermeiden ließ": Vom 25. September bis 18. Oktober werden 14 Partien gespielt.
"Nur" vier musste Kramnik am 29. Januar austragen - die aber gleichzeitig. Das brachte den erheblichen Nachteil mit sich, dass die vier Uhren, die bei dem Simultan seine Bedenkzeit auf 2:40 Stunden für jeweils 40 Züge limitierten (plus 80 Minuten für den Rest jeder Partie), zuweilen alle gleichzeitig tickten. Der Weltmeister steckte dieses Handicap jedoch erstaunlich leicht weg: Der 28-Jährige benötigte für die Eröffnungsphase im Durchschnitt lediglich 25 Minuten, während Robert Hübner, Christopher Lutz, Rustem Dautov und Klaus Bischoff fast die Hälfte ihrer ersten zwei Stunden für 40 Züge (plus eine Stunde für den Rest) verbrauchten. Letzterer fühlte sich bereits im "ersten Zug ausgetrickst". Kramnik hatte mit dem Damenbauern begonnen, dann aber nach der Antwort e6 überraschend mit dem zweiten Zug in die Französische Verteidigung übergelenkt. Dabei hatte Bischoff auf 1.e4 Sizilianisch geplant. Auch Lutz wurde "überrascht. Anti-Marschall hat Wladimir nur einmal gespielt. Ich habe alles Mögliche vorbereitet, nur nicht das", gestand Kramniks Sekundant beim Fritz-Match in Bahrain und streute Asche auf sein Haupt, "ich bin mit dem Partieverlauf nicht zufrieden. Ich stand mit Weiß etwas schlechter - und das sollte nicht passieren. Wladimir war sehr, sehr gut vorbereitet. Die Eröffnungsphase ging an uns völlig vorbei. Selbst seine Zeit war viel besser." Entsprechend unbeschäftigt stand der Moskauer breitbeinig zwischen den Reihen, zwei Bretter links, zwei Bretter rechts. "Es lief ziemlich gut für mich. Bis auf wenige Momente kontrollierte ich das Geschehen", befand der Weltmeister, der vor dem Duell ein 2,5:1,5 für eine Seite oder ein 2:2 erwartet hatte. Schließlich sei die deutsche Auswahl deutlich stärker als die Schweiz, die er vor vier Jahren mit 4:2 niedergehalten hatte.
Als einziger trieb Hübner dem 28-Jährigen "Sorgenfalten" auf die Stirn. "Da musste ich nach der Eröffnung sehr genau spielen", befand Kramnik zum Vergleich mit dem ehemaligen Weltranglistendritten, dem er vor zwölf Jahren als Kind noch bewundernd in Dortmund beim Sieg über Garri Kasparow zugeschaut hatte. Das "unangenehme Gefühl, dass alle vier Uhren gleichzeitig laufen und man sich entscheiden muss, an welches Brett man geht", plagte Kramnik nur selten. Als draußen heftiger Wind über den Lago Maggiore wehte, äußerte der auch in Italienisch parlierende Kommentator Helmut Pfleger die Hoffnung, dass die Partien "ebenso stürmisch werden wie die See". Es blieb allerdings beim lauen Lüftchen ohne Zeitnot, bei der man den Hobby-Volleyballspieler vom Schwarzen Meer gerne als Sprinter gesehen hätte. Nach etwas mehr als drei Stunden erstarb diese Aussicht endgültig. Die verbliebene Zeit an den vier Brettern: Hübner - Kramnik (23 Züge) 36 gegen 57 Minuten; Lutz - Kramnik (25) 18 Minuten gegen 1:16 Stunden (!); Kramnik - Dautov (25) 1:03 Stunden - 30 Minuten; Kramnik - Bischoff (24) 1:01 Stunden - 30 Minuten. Bundestrainer Uwe Bönsch, der auch schon 1991 bei Garri Kasparows 3:1 über das deutsche Nationalteam als Ersatzmann dabei war, schwante Böses: "Kramnik steht insgesamt besser." Das hieß: Langsam konnte nur noch das klingelnde Handy des Weltmeisters helfen - und danach die Entscheidung des Schiedsrichters, dass Kramnik dadurch gleich alle vier Partien verliert und nicht nur die eine, bei der er gerade steht ...
Während der Simultangeber in einem remisträchtigen Mittelspiel Dautov links liegen ließ, verzeichnete er gegen Lutz Vorteile. Ein a tempo ausgeführtes Bauernopfer mündete letztlich in einen Bauerngewinn. Zudem kam Kramnik gegen Hübner immer besser ins Spiel. Nur bei Bischoff lief nicht alles nach Wunsch für den "Schach-Single". "Gegen Klaus war ich zu optimistisch und kreativ", räumte der Weltranglistenzweite ein. "f5 war eine tapfere Entscheidung, um mit e6 zwei Bauern reinzuschießen", bekannte Bischoff, "mir blieb danach allerdings auch nichts anderes, als die zurückzugeben." So kam nach 3:40 Stunden und 26 Zügen das Remisangebot, das der Bundesligaspieler des TV Tegernsee "aus Prinzip nicht ablehnen wollte. Beim Kampf Mann gegen Mann hätte er es bestimmt nicht offeriert. So wollte er eben eine Partie loswerden. Ich hatte zudem eine knappe Zeit - und wenn er mich dann da sitzen lässt, ist das auch nicht schön", verwies der mehrfache deutsche Blitzmeister auf seine lediglich verbliebenen 13 Minuten gegenüber 48 des Kontrahenten. Das Experiment, Simultanspieler zu sein und nicht die "Innenbahn" einzunehmen, empfand der Großmeister als "gewöhnungsbedürftig. Es ist wie in der Kneipe: Entweder man wählt den Platz hinter oder vor dem Tresen". Am späten Abend wählte Bischoff wieder den gewohnten, auch wenn er am nächsten Tag früh mit dem Flugzeug aufbrechen musste, um um 14 Uhr in Höckendorf (südlich von Dresden) bei der Auftaktrunde der deutschen Meisterschaft am Brett zu sitzen. Nach elf Zügen begnügte sich der Nationalspieler dort allerdings mit einer Punkteteilung gegen den saarländischen Abonnementmeister Herbert Bastian. Eine noch weitere Reise nahmen drei ostdeutsche Fans auf sich: Die Brandenburger Bernd Klotzke, Dirk Tornow und Manfred Schwuttke nahmen eine fünfzehnstündige Zugreise auf sich, um am Lago Maggiore mit von der Partie zu sein! "Ich war in Leipzig 1960 dabei und habe Bobby Fischer und all die anderen Großen wie Tal gesehen", erläuterte Rentner Schwuttke, warum er einen Kurztrip in die italienische Schweiz auf sich nahm. Die Zuschauerzahl lag trotz der drei Fans vom SV Wusterhausen bei "nur" etwa 150 - 1991 waren es in Baden-Baden beim Kasparow-Uhrenhandicap zehnmal so viele gewesen. An den Anstrengungen des Sponsors Dannemann konnte es nicht gelegen haben, denn für die rund sieben Euro Eintritt bekamen die Schachspieler sogar Häppchen und Getränke inklusive.
Klaus Bischoff (rechts) hätte nach Ansicht seiner Kameraden gegen Wladimir Kramnik weiterspielen sollen. Im Hintergrund Rustem Dautov.
Kurz nach dem Friedensschluss bei Bischoff (nach 3:40 Stunden) folgten jene an den Brettern gegen Dautov (3:50) und Lutz (4:03). "Kramnik hat überhaupt nichts unternommen. Hätte er am Schluss auf f7 geschlagen, sah er wohl die Gefahr, dass ich irgendwie besser stehe und weiterspiele", berichtete der Baden-Ooser Erstliga-Akteur, der 1989 den 14-jährigen Kramnik in Moskau geschlagen hatte. Da sich jedoch ein Damenendspiel mit jeweils fünf Bauern abzeichnete, willigte Dautov in die Punkteteilung ein. "Als Schwarzer versuchte ich auf Sicherheit zu spielen. Erst zum dritten Mal wandte ich die Russische Verteidigung an, um Kramnik zu überraschen. Gegen mein gewohntes Caro-Kann besitzt er eine sehr gute Bilanz. Ich kopierte ihn daher in seiner Partie gegen Leko, in der er auch Schwarz hatte. Nach seiner Neuerung 17.Lg3, die ich zu Hause nur kurz analysierte, verpasste er eine gute Möglichkeit. Bei 23.g3! Lxe5 24.dxe5 steht Weiß im Endspiel klar besser. Als er mich 40 Minuten sitzen ließ, war klar, dass Kramnik nur noch ein Remis wollte", analysierte der von seinem Gegner gelobte Dautov ("Er verteidigte sich sehr genau") und "fürchtete, dass wir jetzt verlieren, nachdem er sich auf Hübner konzentrieren kann". Von Bischoff hätte der gebürtige Sowjet deshalb eine Ablehnung des Unentschiedens erwartet. "Kramnik hat sich bei dem doppelten Bauernopfer überschätzt. Klaus hätte weiterspielen müssen", meinte Dautov angesichts der zweischneidigen Schlussstellung. Der Porzer Lutz konnte nämlich wegen eines Minusbauern bei "bestem Willen" nichts mehr in einem Endspiel Turm und ungleichfarbige Läufer unternehmen.
Der Weltmeister hatte derweil sein Opfer erspäht: Völlig allein gelassen war nun der arme Hübner. Kramnik brauchte endlich nicht mehr zu kreisen zwischen den vier Tischen und dem stillen Örtchen, das er wegen seines exorbitanten Mineralwasser-Konsums ungewöhnlich häufig aufsuchte. In den Orkus geriet währenddessen die Partie des wackeren Hübner. Nach nur einem ungenauen Zug drehte sich das Blatt. "Ich hab's auch nicht ganz verstanden, aber meine Stellung wurde immer besser", wunderte sich der Moskauer selbst über den Umschwung, "mein Bauer auf c4 kann stark oder schwach sein. Erst als ich ihn nach c3 vorspielte, wurde mir klar, dass ich vielleicht besser stehe." Nach exakt fünf Stunden und 52 Zügen streckte der letzte Deutsche im verlorenen Turmendspiel die Waffen zum 1,5:2,5. Hübner geißelte am nächsten Morgen den gierigen Bauernraub 20.Txa5, nachdem der 55-Jährige ebenso wie Kramnik zunächst 19.Tb5 als Fehler angesehen hatte. Später hätte der Baden-Ooser auch noch ein Remis verteidigen können.
Robert Hübner (links) und Wladimir Kramnik bei der Analyse der Partie.
Da es nicht wie damals in Baden-Baden um einen 80.000 Mark teuren BMW für den Sieger ging, sondern jeder aus dem Quintett eine feste Gage erhielt, konnte das Uhrenhandicap-Match freundschaftlich abgehakt werden. Kramnik widmete sich lieber der auf September terminierten "Stunde der Wahrheit". Die Untätigkeit lähmte offenbar den Kasparow-Bezwinger seit langem. "Ich bin wirklich glücklich, dass gespielt wird. Der Ort ist mir egal. Jetzt kann ich endlich einen Plan aufstellen, wie ich dieses Jahr arbeite und trainiere", erklärte der 28-Jährige. Von einer Krise nach Wijk aan Zee, wo er nur im Mittelfeld gelandet war und drei Partien verloren hatte, wollte Kramnik nichts wissen. "Ich war zu kreativ und experimentierte zu viel - wie 2003 verlor ich dort drei Partien und anschließend den Rest des Jahres keine mehr", äußerte der Weltmeister und fügte schmunzelnd an, "wenn mir das gelingt, verliere ich auch den Titel nicht an Leko - das ist mein größtes Ziel 2004." Auf die Unkenrufe, die von einer Remisserie gegen den Herausforderer künden, entgegnete Kramnik ebenso mit einem Augenzwinkern: "Ich denke auch durchaus an einen Sieg in 14 Partien", gleichwohl Leko der einzige Topspieler sei, "der im klassischen Schach eine positive Bilanz gegen mich besitzt". An eine Wiedervereinigung der Schachwelt glaubt der Moskauer vorerst nicht. Der Weltverband FIDE habe sich als unfähig erwiesen, Spitzenschach professionell zu organisieren. Jüngsten Gerüchten zufolge soll FIDE-Chef Kirsan Iljumschinow in Kalmückien, wo er ebenso der autonomen Republik vorsteht, abgetaucht sein. FIDE-Vizepräsident und Europameister Surab Asmajparaschwili erklärte Iljumschinow bereits für Pleite. Nun ist der Stalin-Verehrer aus Georgien im Regelfall gewiss keine vertrauenswürdige Quelle - aber wenn einer von zwei miteinander verbandelten Gauklern dergleichen verbreitet, wird schon ein Körnchen Wahrheit darin liegen. Wie dem auch sei: Kramnik fühlt sich "jetzt gut und motiviert". Mit breiter Brust verkündete der Weltmeister vor dem nächsten Topturnier in Spanien: "Ich bin in Linares einer der Favoriten."
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Kramnik,W (2777) - Dautov,R (2616) [C42]
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Huebner,R (2604) - Kramnik,W (2777) [A46]
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Kramnik,W (2777) - Bischoff,K (2561) [C11]
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