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Abenteuer in Berlin

Jubiläum


Rochade Express, Nr. 55, Seite 19ff, "Abenteuer in Berlin"
von Wolfgang Gerstner

   Froh gelaunt und guten Mutes traten Hartmut und ich unsere Reise zum größten europäischen Open, dem Berliner Sommer, an. Die Zugfahrt hatte Hartmut sich ausgedacht, um nicht - wie 1990 in Prag - auf meine Beifahrerkünste (Karte lesen und Strecke festlegen) angewiesen zu sein. Was er nicht berücksichtigt hatte, war, dass wir uns nun im U-Bahnnetzdschungel Berlins zurechtzufinden hatten. Eine Aufgabe, an die ich mit Begeisterung und Hartmut mit wachsender Sorge ging.

   In unseren Ost-Berliner City-Appartements angekommen, erlebten wir sogleich eine unangenehme Überraschung, bestand doch unser Zimmer aus drei Räumen, zwei Zweibettzimmern und einem gemeinsamen Bad. Dabei musste man unbedingt durch das eine Zweibettzimmer gehen, um in das andere zu gelangen. Aus Respekt vor unseren ,uns bis dato noch unbekannten Zimmergenossen und deren zu erwartenden nächtlichen Streifzügen und Eskapaden nahmen wir das hintere Zimmer. Uns würde des nachts keiner wecken!

   Später gesellten sich unsere Nachbarn dazu, der Italiener Michele, wie Hartmut wusste kein guter Spieler, denn es existieren keine gut spielenden Italiener, und der Armenier Karen, wie Hartmut wusste ein Unsympath, der nur die Preise absahnen will. Also ein Sinken der Zimmer-ELO, wie wir mit mitleidigem Achselzucken feststellten. Gegessen hatten wir allerdings auch noch nichts, so dass wir zum Alex fuhren, dann zurück. Da Berlin ganz nett ist, wollte ich eine neue, schnellere S-Bahn ausprobieren und setzte mich gegen die unqualifizierte Unkenrufe Hartmuts, der Schlimmes ahnen und den üblichen Trott beibehalten wollte, durch. So lerneten wir Berlin bei Nacht kennen, bis wir gegen 1:30 Uhr von einem gutherzigen S-Bahnfahrer mit der Frage "Wohin wollt ihr eigentlich? " aus der Überlegung gerissen wurden, dass wir vielleicht doch einen Stadtplan von Berlin hätten mitnehmen sollen. Glücklich lagen wir dann anderthalb Stunden später in unseren Betten.

   Am nächsten Tag gab es eine positive und eine negative Überraschung: Hartmut hatte recht damit, dass Karen unsympathisch ist, denn er verlor gegen ihn. Negativ war, dass Michele kein Floh, sondern das Brett 2 Italiens ist, womit nun Hartmut und ich für die drastische Senkung des ELO-Schnittes sorgten. Erschwerend kam hinzu, dass ich selbst weit unter Niveau begann und gegen vier schwächere Spieler mit den erreichten 50% sehr zufrieden sein konnte, hatte ich doch drei Verluststellungen zu überstehen. Den größten Glückstreffer landete ich dabei in Runde 4 gegen Epding:











Epding - Gerstner
Berliner Sommer 1992

Wäre Schwarz nun am Zug, könnte er wegen Kc8, Kb6 Kb8, c6 aufgeben. Doch Weiß ist dran und es folgte 50.Kb4 Kd7 [ 50...Kc6? 51.Kc4 nebst Kd5.] womit die Zeitkontrolle (2,5 Stunden / 50 Züge) erreicht war. Weiß kann nun einfach gewinnen, und bei Abbruch zur Hängepartie hätte ich sofort aufgegeben. Epding verzichtete auf den Abbruch, weil er "totales Remis" sah und spielte 51.Ka5? [ Der triviale Dreiecksmarsch 51.Kb3 Kc7 52.Kc3 Kd7 53.Kb4 Kc7 Kc6 wird immer mit Kc4 beantwortet. 54.Kb5 hätte die Ausgangsstellung mit Schwarz am Zug ergeben.] 51...Kc6 52.Kb4 b5 53.cxb6 Kxb6 und Schwarz remisiert wegen der Opposition.
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   Hatte ich jedoch bis dahin phantasieloses und stumpfes Schach gespielt, so änderte sich das nun, als ich mich warm gespielt hatte. Oder lag es an dem Schockerlebnis am Morgen, als ein entgeisterter Hartmut mir berichtete, dass die Versuche Karens, in einer Badewanne ohne Vorhang zu duschen, zu dem Ergebnis geführt hatten, dass das Wasser im Bad zentimeterhoch stand, weshalb Hartmut die Tür öffnete, in der Hoffnung, dass es bis zum Abend verdunstet sei? Oder war es eine Trotzreaktion auf Hartmuts Gequengel, der sich jeden Morgen über mein Wachsein um 8 Uhr beschwerte (Ein typischer Morgendialog: Hartmut: "Ist das Bad frei? " Ich: "Ja. " Hartmut: "Sind nicht Karen oder Michele drin? " Ich: "Nein! " Hartmut: "Mist! ") und dem ich beweisen wollte, dass ich noch mehr konnte, als ihn aus dem Bett zu werfen?

   Nun, zumindest hatten sich Michele und Karen nicht nur als spielstarke, sondern auch als angenehme Zeitgenossen entpuppt. Auch wenn die Unterhaltung mehrsprachig geführt werden musste, kamen wir uns schnell näher und verbrachten manch interessante Stunde miteinander. Jedenfalls heimste ich jetzt bei gutem Spiel 2,5 Zähler in den folgenden drei Runden ein, womit ich wieder zufrieden sein konnte. Insbesondere in Runde 7 gab es einen taktischen Schlagabtausch nach dem scharfen Marshall-Gambit, der unter Figurenopfer zu meinen Gunsten endete. Einziger Negativpunkt: Die guten Verteidigungskünste meines Kontrahenten zogen die Partie so in die Länge, dass Hartmut und einige andere Spieler, die schnelle Remisen bzw. Verluste eingebaut hatten, ohne mich zum ISTAF-Leichtathletiksportfest gingen. So tat ich mich mit Karen zusammen und besuchte das Kudammfest, wo wir uns ausgiebig vergnügten, ehe wir auf der Heimfahrt wieder Hartmut trafen.

   Mit +2 gibt es in Berlin nur noch gute Gegner. So traf ich in der achten Runde auf GM Krogius ("Psychologie im Schach"), mit der ELO-Zahl von 2500 bestückt. Ich schrammte knapp am Sieg vorbei (s.u.), blieb allerdings mit vorn, so dass ich noch IM Kishnev (2530 ELO) vor die Flinte bekam. Es war meine beste Partie seit langem, in der Kishnev nach zehn Zügen ums Remis kämpfte und nach 15 einen Bauern opfern musste. Doch wieder war der Zeitverbrauch (135 Minuten für 17 Züge!) wegen der Komplexität der Stellung riesig, und wieder rächte es sich: Diesmal stellte ich eine Figur ein, was das unrühmliche Ende einer sehr schönen Partie war.

   Sonstiges Fazit: Hat Spaß gemacht (Berlin) und war anstrengend (Nachtruhe begann gegen ein Uhr). Sonst: Karen und Michele sind doch zwei sehr patente Kerle, die wir wohl mal wiedersehen werden. Schachliches Fazit: Leider zu spät in Form gekommen.











Krogius - Gerstner
Berliner Sommer 1992

1.Sf3 Sf6 2.c4 c6 3.Sc3 d5 4.e3 e6 5.b3 Ld6 6.Lb2 0-0 [ Schlecht wäre 6...e5? 7.cxd5 cxd5 8.Sb5 Sc6 9.Sxd6+ Dxd6 mit anfälligem Zentrum und weißem Läuferpaar.] 7.Le2 Sbd7 8.0-0 De7 [ 8...e5? 9.cxd5 cxd5 10.Sb5 Lb8 11.La3 Te8 12.Sd6 ] 9.d4 Es ist die alte Petrosjan-Variante entstanden, die Weiß einen minimalen Vorteil sichert, der sich deutlich vergrößert, wenn er mit e4 im Zentrum aktiv werden kann. Schwarz, der passiv steht, muss also selbst dort vorgehen, um seine Figuren frei entfalten zu können. 9...dxc4 10.bxc4 e5 11.Dc2 e4 Schwarz hatte drei Möglichkeiten: Den Textzug, der das Zentrum festlegt und die schwarzen Läufer auf die Rochadestellung schielen lässt, exd4, der das Zentrum auflöst, und Te8, der sich beide Möglichkeiten offen lässt. Ich verwarf sie nach längerem Nachdenken wegen [ 11...exd4 12.exd4 c5 sonst erhält Weiß die e-Linie bei exquisitem Spiel. 13.d5 Se5 14.Sb5 Lb8 ( 14...Sxf3+ 15.Lxf3 Le5 16.d6! Lxd6 17.Tfe1 Le6 18.Lxf6 gxf6 19.Lxb7 ) 15.Tad1 a6 16.Sxe5 axb5 ( 16...Lxe5 17.d6 ) 17.f4 ; 11...Te8 12.d5 Sc5 ( 12...e4 13.Sd4 De5 ( 13...Se5 14.Sxe4 ) 14.g3 cxd5 15.Sxd5 Sxd5 16.Sb5 Sb4 17.Dd2 ) 13.e4 Sh5 14.Tfe1 Sf4 15.Lf1 Lg4 und Weiß wehrt den Angriff leicht ab und behält ein starkes Zentrum.] 12.Sd2 Te8 13.Tae1! [ Ich rechnete hauptsächlich mit einem Spiel auf getrennten Flügeln, wobei Weiß den Angriff von Schwarz mittels 13.c5 Lc7 14.Sc4 Sf8 15.La3 Sg4 16.Sd6 Lxd6 17.cxd6 Dg5 18.Sxe4 Dg6 19.Ld3 Lf5 20.Sc5 Dxd6 21.g3 Dh6 22.h4 Lxd3 23.Dxd3 hätte abwehren können, aber wegen der schwachen Bauern hätte Schwarz gutes Spiel erhalten. Krogius spielt jedoch viel stärker, denn er bringt alle schwarzen Angriffsaussichten mit f4 zum Erliegen: Tauscht Schwarz nicht auf f3, so wendet sich Weiß beruhigt dem Damenflügel zu, nimmt Schwarz aber auf f3, so erhält Weiß ein starkes klassisches Zentrum.] 13...Sf8! Dieser einfache Zug, der dem Lc8 den Weg frei macht, ist der Auftakt eines Plans, der das sich anbahnende weiße Zentrum bekämpfen soll und kostete mich fast eine Stunde Bedenkzeit. Danach wusste ich auch, dass c5 14.f3! und h5 14.Dd1! für Schwarz nichts Gutes versprechen. Der geneigte Leser mag sich an den vielfältigen Varianten selbst verlustieren. 14.f4 exf3 [ Wenig akzeptabel ist die "Angriffsfortsetzung" 14...Lg4 15.Sdxe4 ] 15.Lxf3 Sg4 Wie Krogius mir berichtete, existiert eine Partie mit Lc7 16.Tf2! (e4? Dd6), die Weiß bald gewann. Sg4 erzwingt den Abtausch, und Abtausch ist immer gut für die Partei, die gegen das klassische Zentrum spielt. Außerdem soll der Lc8 nach g6 gebracht werden, von wo er unangenehm nach e4 linst. 16.Lxg4 [ 16.h3 Sh2 17.Tf2 Lg3 ; 16.g3 Sxh2 17.Kxh2 Dh4+ 18.Kg1 Dxg3+ 19.Lg2 Dh2+ 20.Kf2 Lg3+ 21.Kf3 Lg4+ 22.Kxg4 Dxg2 23.Tg1 h5+ 24.Kxh5 Dh3+ 25.Kg5 f6# ] 16...Lxg4 17.e4 Se6! Schwarz setzt unverzüglich das Zentrum unter Druck, damit es seine Kraft nicht entfalten kann bzw. durch Vorrücken der Bauern festgelegt wird. 18.Sb3 Räumt die zweite Reihe, deckt d4 und droht e5. [ 18.e5? Sxd4 19.De4 ( 19.exd6? Dxe1 ) 19...Dxe5 ( Nicht das verlockende 19...Lc5 20.Dxg4 Sf3+ 21.Kh1 Sxd2 22.Tf6 mit scharfem Angriff nach Sa4 und e6.) 20.Dxg4 Dxh2+ 21.Kf2 f5 22.Txe8+ Txe8 23.Dxd4 wobei Schwarz nun die Wahl zwischen Dauerschach Dg3-h2- g3 und dem Angriff 23...g5 24.Sce4 fxe4 25.Sxe4 Le5 hat.] 18...Tad8 Alle schwarzen Figuren zielen auf das Zentrum. 19.e5 Lb4! Der schwierigste Zug der Partie und die konsequente Fortsetzung der Verteidigung, die in Abtausch besteht. Hier verblieb mir noch eine halbe Stunde Bedenkzeit für 31 Züge. 20.a3? Ein kapitaler Fehler, der das Blatt zugunsten von Schwarz wendet. [ Die Hauptvariante war 20.De4 Lh5 21.d5 Sc5 22.d6 Dd7 23.Dh4 Lg6 wonach die Bauern gestoppt sind, e5 kann man gut unter Druck setzen, Schwarz besitzt das Läuferpaar und kann f6 vorbereiten. Dafür besitzt Weiß klaren Raumvorteil und kann e5 ausreichend decken - eine schwer zu beurteilende Position, die aber Krogius nicht gut genug war.] 20...Sxd4! Eine Kombination, die zunächst einfach aussieht und Schwarz materiell in Vorteil bringt. 21.Sxd4 Lc5 22.Se4 Lxd4+ 23.Lxd4 Txd4 24.Tf4! Droht Txg4 und Sf6+. 24...Lh5! 25.Sf6+ gxf6 26.Txd4 fxe5 27.c5 [ Die Alternativen sind 27.Tde4 Dxa3 wonach 28.Txe5 an 28...Txe5 29.Txe5 Da1+ scheitert.; und 27.Td3 Lg6 28.Tg3 Dc5+ 29.Kh1 b5 30.Tc1 Td8 31.h3 bxc4 Beide Male kann sich Weiß Hoffnungen machen. Nun entsteht ein Endspiel Dame gegen Turm, Läufer und zwei Bauern, wobei Schwarz wegen des Freibauers auf d4 um den Sieg kämpft.] 27...exd4 28.Txe7 Txe7 29.Dd3 Td7 30.Kf2 Der König muss den Bd4 stoppen. 30...Lg6 31.Dh3 Td8 32.Ke1 b6? Bei wenig verbliebener Zeit fasst Schwarz den falschen Plan, mit zwei Bauern vorzurücken, denn es gelingt Weiß, sie aufzuhalten, wonach die Siegchancen minimal werden. [ Richtig war 32...d3 33.Kd2 Td5 34.Dc8+ Kg7 35.Dxb7 Txc5 36.Db2+ ( 36.Dxa7? Tc2+ 37.Ke1 d2+ 38.Kd1 Lh5+ ) 36...Kh6 37.Df6 Tc2+ 38.Ke1 ( 38.Kd1 Txg2 39.Dh4+ Lh5+ ) 38...Te2+ 39.Kf1 Te4 und gegen den Marsch der beiden Bauern ist nichts zu machen.] 33.cxb6 axb6 34.Db3 b5 35.a4! Dieser Abtausch macht den c-Bauern schwach. 35...bxa4 36.Dxa4 Td6 37.Kd2 h5 Verschafft dem schwarzen König das Feld h7 und verhindert g4, nimmt aber dem Läufer das Feld h5 und legt den Königsflügel fest. [ Falsch wäre natürlich 37...c5 38.De8+ Kg7 39.De5+ ] 38.Db4 Td5 39.Dc4 d3 Ohne dieses Bauernopfer kommt Schwarz nicht weiter, aber nun bahnt sich leider das Remis deutlich an. 40.Dxc6 Te5 41.Df3 Te2+ 42.Kd1 Tb2 43.h4 Tb4 Beseitigt Ideen wie g4. 44.g3 Kg7 45.Kd2 Kh7 46.Dd5 Tb2+ 47.Kd1 Tb1+ 48.Kd2 Tb2+ Schwarz will zunächst die Zeitkontrolle erreichen, um dann einen Plan zu fassen und verändert deshalb die Stellung nicht. 49.Kd1 Tb4 50.Kd2 Tg4 51.De5 Te4 Eine letzte Idee: Den Turm auf die zweite Reihe stellen, d2 ziehen, und den Läufer auf die Diagonale d1-h5 bringen. 52.Dd5 Te2+ 53.Kd1 Th2 54.Df3 Kg7 55.Dd5 Kh7 und Remis. Aus der Traum vom ersten GM-Skalp. [ 55...Kh7 56.Df3 d2 57.Df1 nebst 58.Dg1 zerstört alle Illusionen. Auch die Versuche von Michele und Karen waren bei der Analyse zum Scheitern verurteilt.]
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