Startseite Rochade Kuppenheim

Denken heißt Überschreiten"

Reformpläne im Schach oder mit dem Zufallsprinzip wider die Datenbank

von Harald Fietz, Dezember 2001, Fotos Eric van Reem und Stefan Kassel

mehr Schachtexte von Harald Fietz

 

Ein Ausblick

 

   FRC hat Konjunktur, weil ein "Unbehagen am Schach" grassiert, wie es der ehemalige Zweitbundesligaspieler Silvo Lahtela skizziert hat. Der Berliner Autor, der 1999 unter anderem einen Thriller mit Schachkontext und dem Titel "Update" beim Ullstein-Verlag veröffentlichte, kritisiert die Computerisierung der Entwicklung des königlichen Spiels: "Wie ein Krebsgeschwür durchziehen endlose Eröffnungsvarianten aus riesigen Datenbanken die Gehirne der Spieler und töten erbarmungslos ab, was zumindest mich vor vielen Jahren zum Schach trieb: simple Spielfreude." (2001, S. 46) Diese Meinung steht im Gegensatz zur Auffassung des Neuköllner Bundesligaspielers Dirk Poldauf: "Genuss des Schachs stellt sich meines Erachtens auch über Wissen her. FRC scheint den Spieltrieb zu fördern, ein Aspekt, der mich am Schach nie interessiert hat. Mich stört prinzipiell etwas, dass insbesondere jene Kategorie Spieler FRC zu begrüßen scheinen, die tendenziell weniger in die Geheimnisse der Eröffnungstheorie und des Schachs allgemein eingedrungen sind. Im Klartext: relativ schwache Spieler. Diese sollten doch erst das Normalschach ausreizen. Allerdings gebe ich zu, dass viele Großmeister darüber klagen, dass diese oder jene Eröffnungssysteme remis sind. Und sie spielen sie trotzdem und das ist oft langweilig."

   Es herrscht allgemeines Einverständnis, dass die Lage im Spitzenschach bisweilen eintönig ist, aber Änderungen werden vorsichtig bewertet. Eine große Gruppe möchte des Status quo erhalten, eine andere Fraktion kleine Änderungen (zum Beispiel Lahtelas Vorschlag, in Turnieren eine bestimmte Schachstellung nach dem fünften Zug für alle verbindlich als Eröffnung des Tages auszugeben) und eine Minderheit neigt der Vision einer Abkehr vom klassischen Schach zu. Welche Stimmung treffen die "Radikalen" an? Eine Befragung unter 20 Kennern der Szene zeigt den Trend, dass FRC als Möglichkeit nicht grundsätzlich abgelehnt wird, dem klassischen Schach aber weiterhin das Hauptaugenmerk der Beschäftigung mit den 64 Feldern gelten soll.

   In Tenor herrscht viel Gleichklang. Einen Anfang kann jeder machen, schließlich kann man konventionell beginnen, wie Sven Noppes, der Schiedsrichter der Chess Classic Mainz, zusammenfasst: "Die Spieler haben versucht, bekannte Stellungsbilder auf das Brett zu bringen. Erstaunlich war vor allem im Journalistenturnier, dass die Regeln von allen sehr schnell und richtig verstanden wurden." Der Chess-Classic-Moderator Eric Lobron vermutet bei den beiden Weltklasseleuten hinter dem Streben nach klassischen Mustern zunächst ohnehin nur eine "Notwehr", denn mit 20 Minuten plus 10 Sekunden spielte diesmal der Zeitfaktor eine nicht unerhebliche Rolle.

 

Eric Lobron

Eric Lobron
 

   Für den Klubspieler argumentiert Hans Post: "Ich kann als Nicht-Theorie-Lerner besser mit den Auswendiglernern klar kommen."

   Hat man die Hemmschwelle erst einmal überwunden, ist es eine Sache positiver Erfahrungen, wie der dreifache russische Landesmeister Peter Swidler glaubt: "Ich finde, dass es mich anregt, nach ungewöhnlichen Ideen und Manövern Ausschau zu halten, und letztendlich erreicht man doch mehr oder wenige normale Stellungen." Sven Noppes weiß von seinem Lernprozess zu berichten: "Ich habe zuerst sehr offen gespielt, aber schnell gemerkt, dass beide Parteien am Anfang sehr unterschiedliche Pläne haben, da sie die Stellung völlig verschieden lesen und interpretieren. Die Partien waren mir zu schnell entschieden, deshalb spiele ich jetzt sehr geschlossene Eröffnungsbilder."

   So unterschiedlich wie die 960 Ausgangsstellungen werden in den kommenden Jahren auch die Einschätzungen sein. "Unsere Gesellschaft lebt von der Vielfalt," meint unbekümmert IM Fabian Dötting und Gilberto Hernandez betont, "dass es wichtig war, dass zwei Top-Großmeister sich an FRC gewagt haben". Allerdings gibt Peter Leko zu bedenken, dass nicht alle Spitzenspieler begeistert sein werden, denn "für den ein oder anderen Top-Großmeister oder Weltmeister könnte ein schlechtes Abschneiden beim FRC mit erheblichen Prestigeverlusten verbunden sein". Andere Supergroßmeister, etwa der Ukrainer Wassili Iwantschuk, lehnen FRC ebenso ab wie die Teilnahme von Schachcomputern. Ein großes Fragezeichen steht hinter der Akzeptanz des Zufallsprinzips. "Auf Klub-Ebene kann es immer gespielt werden. Populär wird es aber dort nur, wenn es sich bei den Topspielern durchsetzt. Da Schachspieler oft kühle Rechner sind, bezweifle ich, dass sie auf Dauer FRC dem ‚normalen' Schach vorziehen werden. Der Faktor der Unsicherheit ist ihnen vielleicht zu groß", lautet die Einschätzung von Sven Noppes, der als Organisator des Deizisau-Open Erfahrungen mit Spielern aller Wertungsklassen besitzt. Peter Leko konstatiert eine gewisse Neugier und verweist auf Nebeneffekte: "Nach meinem Wettkampf mit Adams habe ich jedoch festgestellt, dass sich die Szene sehr interessiert, aber auch verunsichert ist. Ich bin aber überzeugt, dass Fischer-Random viele Menschen zum Schach bringen oder zurückbringen kann, die wir sonst nicht mehr erreichen. Außerdem könnte FRC in der Jugendarbeit gut eingesetzt werden." Pessimistischer äußert sich Hans Post: "Ich glaube leider nicht, dass sich FRC auf breiter Front durchsetzen wird, ich sehe es eher als eine Art ‚Freestyle' (oder ‚Extreme Chessing') analog zu anderen Trendsportarten." Das würde möglicherweise den Geschmack manch junger Schachfans treffen, die im Alter der 14-jährigen WFM Arianne Caoili sind. Die Filipina schätzt zwar, dass FRC "Kreativität erzwingt", doch billigt sie dieser Form des Spiels nur einen Fun-Status zu: "Wer jahrelang (oder sogar ein Leben lang) das ‚richtige Schach' studiert und gespielt hat, wird es nicht akzeptieren."

   Diese Weisheit trifft bei den Amateuren vielleicht noch mehr den Punkt als bei den Spitzenspielern. Letztere könnten in internationalen FRC-Turnieren eine lukrative Einkommensquelle sehen. Wenn die einhellige Stimmung, dass FRC populärer werden kann, sollte es gut organisiert sein, aufgegriffen wird, so werden sich wohl bald eine Reihe von Top-Ten-Spielern einen Monat in Jahr für den Zufall freihalten. Mainz könnte - ähnlich wie Monaco in Schnell- und Blindschach - der jährliche Wallfahrtsort für FRC werden.

 

Hans-Walter Schmitt

Hans-Walter Schmitt
 

   Wie nicht anders zu erwarten, sieht Hans-Walter Schmitt seinen FRC-Überraschung-Coup nur als den Beginn einer prosperierenden Entwicklung: "Ohne eine Weltmeisterschaft und ohne nationale Meisterschaft oder große Turniere kann sich das innovative sowie kreative FRC auch in der Breite nicht durchsetzen - es gilt eine eigene - vom normalen Schach unabhängige - weltweit florierende Organisation zu gründen." Braingames-Weltmeister Wladimir Kramnik hat derweil schon eine Trainingsnacht hinter sich. Zwischen den Turnieren von Mainz und Dortmund logierte er in der Gästewohnung des Bad Sodener Chess-Classic-Organisators und hielt in einem 40 Partien-Schnellschachmatch seinen Sekundanten Miguel Illescas nur knapp mit 21-19 auf Distanz. Vielleicht springt durch hochkarätige Veranstaltungen auch ein Funke auf die große Masse der Schachenthusiasten über und diese mischen ihre Figuren durch. Dazu reicht es einfach, ein wenig über den Horizont hinauszuschauen.

 

Artur Jussupow

Artur Jussupow
 

   Artur Jussupow gibt dafür ein einfaches Motto aus: "Probiere es mal!" Ein Denksport bleibt es auf jeden Fall und "Denken heißt überschreiten", wie es der Philosoph Ernst Bloch im Vorwort seines Hauptwerkes "Prinzip Hoffnung" postuliert. Vielleicht gewinnen mit diesem Motto auch die Datenbankfreunde wieder etwas mehr ursprüngliche Spielfreunde. Davon würde letztlich ebenso das klassische Schach profitieren - und überleben!

 

Quellen

Avani, Amazia 1998: Surprise in Chess, London: Cadogan

Lahtela, Silvo 2001: Unbehagen am Schach - Gedanken und Hoffnungsschimmer eines irritierten Amateurs, in: Schach, Nr. 8, S. 46-48

Klee, Paul 1995: Kunst-Lehre, 3. Aufl., Leipzig: Reclam

Kortschnoi, Viktor 1977: Chess is my life, London: Batsford

Lembecke, Oliver 2001: Homo ludens oder homo oeconomicus? Die Bedeutung des Spiels im Denken Laskers, in: Michael Dreyer / Ulrich Sieg, (Hg.), Emanuel Lasker - Schach, Philosophie, Wissenschaft, Berlin / Wien: Philo Verlag, S. 129-151

Lissowski, Tomasz / Macieja, Bartlomiej 1996: Zagadka Kieseritzky'ego. Sylwetka wybitnego szachisty I polowy XIX wieku. Fakty, partie, komentarze, Warschau: Wydawnictwo DiG

Palm, Goedart 2001: Noch ein Versuch, das Endspiel zu verstehen. Beim Schach siegt das Gedächnis über die Analyse, Internet: http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/lis/9305/1.html

Tartakower, Savielly G. 1925: Die hypermoderne Schachpartie. Ein Schachlehr- und Lesebuch, ND 1988, Zürich: Edition Olms

Wiener Schachzeitung, verschiedene Jahrgänge

Winter, Eduard 1989: Capablanca. A Compendium of Games, Notes, Articles, Correspondence, Illustrations and Other Rare Archival Materials on the Cuban Chess Genius José Raul Capablanca, 1888-1942, Jefferson, North Carolina: McFarland


Teil 2  

zur Figo