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Denken heißt Überschreiten"

Reformpläne im Schach oder mit dem Zufallsprinzip wider die Datenbank

von Harald Fietz, Dezember 2001, Fotos Eric van Reem und Stefan Kassel

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Fischer Random Chess

 

   Für viele Schachspieler - Profis wie Amateure - wird, selbst nach dem Match Leko - Adams, gelten, was der deutsche Spitzenspieler Robert Hübner gewohnt logisch resümierte: "Die Fragen setzen nämlich voraus, dass man die Sache kennt und sich schon ein wenig mit ihr befasst hat. Dies ist bei mir nicht der Fall; ich muss die Bekanntschaft mit dieser Form des Schachs erst noch schließen - obwohl mir schon die bekannte klassische Form des Schachs viel zu schwer ist."

   FRC ist eben keine "kleine Änderung", sondern stellt den Spieler vor eine grundlegend ungewohnte Ausgangssituation. Kann das für den Normalschachspieler reizvoll sein? Drei zum klassischen Schach wesentliche Unterschiede sollen anhand der Partien aus Mainz eine vorläufige Bilanz bringen:

 
 

1. Die Eröffnung fußt nicht mehr auf erworbenen Wissen; dies soll größere Chancengleichheit ermöglichen.

2. Das Denken in Mustern unterbleibt weitgehendst, weil ungewöhnliche Figuren- und Bauernstrukturen keine strategischen Pläne mit aufeinander abgestimmten Zwischenzielen erlauben - zumindest bis kein normalschachähnliches Mittelspiel erreicht ist.

3. Die Rochade wird zu einem dynamischen Bestandteil des Spiels, da abrupte Änderungen der Stellung eintreten können.

 

   Die noch geringe Praxisbasis zeigt, dass aufgrund dieser Faktoren in fast jeder Stellung absolute Aufmerksamkeit erforderlich ist. Jeder Zug birgt neue Rätsel, verlangt das exakte Hinschauen, ob nicht doch ein Fallstrick ausliegt oder eine überraschende Wendung eintreten kann. Niemand wird ausgerechnet jene der 960 Ausgangspositionen studiert haben, die gerade heute gespielt wird. Doch selbst in diesem Fall ist da immer noch der Spieler auf der anderen Seite, der die Situation nicht kennt und unkonventionell reagiert. Vor dem Zufall sind alle gleich. Dieser Aspekt wird auch kritisch bewertet, wie IM Dirk Poldauf, Redakteur bei der Zeitschrift "Schach" ausführt: "Die Spielstärke beim Normalschach liegt meiner Meinung nach darin begründet, wie die Akteure bestimmte Automatismen durch Training eingeschliffen haben. Im so genannten ‚konkreten Lösen' verwischen diese Unterschiede. FCR müsste durch den Zufallsfaktor und die Reduzierung der Bedeutung des Vorwissens das Leistungsgefälle verringern. Ein Schritt in Richtung Glücksspiel wäre negativ zu bewerten." Doch sollten nicht gerade die Spielerfahrung der Profis ausreichen, auch in Partien mit mehr konkreten Entscheidungsfindungen erfolgreicher zu sein? Denn schließlich bewegen sich noch alle auf dem gleichen glatten Terrain. Anhand der acht Partien zwischen dem Weltranglistenvierten und dem Weltranglistensiebten können einige markante Prinzipien des FRC veranschaulicht werden.

 

Die Eröffnung und die neue Chancengleichheit

 

   Unzweifelhaft strebt FRC danach, die unmittelbare Kreativleistung am Brett stärker zur Geltung zu bringen. "Derjenige, der besser Theorie kannte, hat keinen solchen Vorteil mehr. Ab jetzt spielen nur Improvisation und Phantasie eine Rolle", unterstreicht Vadim Milov. Schachmoderator Helmut Pfleger stößt ins gleiche Horn: "Vergesst Eröffnungen zu studieren." Auch aus Sicht des Vereinsspielers kann man der neuen "Waffengleichheit" etwas Positives abgewinnen, wie es Hans D. Post, der Webmaster des Hessischen Schachverbandes, martialisch auf den Punkt bringt: "Zeig, was du kannst!" Einer der Berufensten, Michael Adams, scheint, nach dem Mainz-Match zu einem passenden Slogan befragt, seinen Humor nicht verloren zu haben: "Spiel FRC - niemand wird merken, dass du keine Eröffnungen kannst!"

   Tatsächlich kann kaum jemand etwas merken, denn wie die erste Partie des Matches unterstreicht, ist nach elf Zügen bereits kräftig abgeholzt worden. FRC leistet nicht selten Abtauschorgien Vorschub. In dieser Partie griff Adams gleich im zweiten Zug zum "lettischen" Bauernzug 2...f5, denn - wie auch in Begegnung Nr. 6 - ist dieser Zug immer dann gut, wenn eine Dame oder ein Läufer auf der Diagonalen parat steht. Allerdings zeigt die Partie auch ein anderes Charakteristika von FRC, nämlich das Fehlen eines richtigen Mittelspiels.

 

Match Leko-Adams

Match Leko-Adams bei den Chess Classic Mainz 2001
  

   Der Betrachter muss sich zudem vergegenwärtigen, dass die Akteure in der Auftaktpartie ziemlich verhalten zu Werke gingen und ab Zug 16, als keine Rochaden mehr möglich waren, eine Normalschachstellung entstand, die wenig Gewinnperspektiven bot.

 

Leko,P (2730) - Adams,M (2750)
Chess Classic Mainz 2001 FRC (1)
 

Anfangsstellung Fischer Random Chess

 

 

1.e4 e5 2.Sd3 f5 3.exf5 e4 4.Se1 Sd6 5.Se3 Sxf5 6.f3 Sxe3 7.Lxe3 exf3 8.Sxf3 Ld5 9.c4!? Mutig, aber notwendig, denn sonst müsste der weißfeldrige Läufer über a2 entwickelt werden. Da dort nur der Turm zurücknehmen kann, bliebe dieser dann im Abseits gefangen. 9...Lxf3 10.Dxf3 Signalisiert Vorsicht, da ohne Damen die Könige weniger gefährdet sind. Zu erwägen war 10.gxf3, denn Schwarz hat seine Schwierigkeiten. Schafft er die Dame und den Springer von der Grundlinie, um klein zu rochieren, dann drängt das weiße Läuferpaar und die Schwerfiguren in der g-Line mächtig. Will er groß rochieren, so bedarf es der "Befreiung" des Läufers auf b8, was allerdings nur unter Lockerung der Bauernstruktur am schwarzen Damenflügel möglich ist. Doch es gibt noch einen anderen Weg: 10...Df6 11.Le4 c6 12.Df2 (Nach 12.Dh3 Le5 spielt Schwarz mit.) 12...Le5 13.d4 Lf4 und Schwarz hat ausgeglichen. 10...Dxf3 11.gxf3 Se6 12.f4 c5 13.f5 Sd4 14.Lxd4 cxd4 15.Le4 Le5 16.Kc2 Kc7 Hurra, es ist Normalschach, denn kein König kann mehr "wegspringen". Aber die Materialverteilung mit ungleichfarbigen Läufern ist remisträchtig. 17.Kd3 Tae8 18.c5 Lf6 19.b4 Te5 20.The1 The8 21.Te2 d5 22.cxd6+ Kxd6 23.Tae1 T8e7 24.Lg2 Txe2 25.Txe2 Le5 26.h3 Tc7 27.Te1 b6 28.Le4 h6 29.a4 Tc8 30.Lb7 Tb8 31.Le4 Tc8 32.Lb7 Tb8 ½-½

 

 
   Nach diesem Kunterbunt in der Eröffnung zu einer völlig anderen Entwicklung. In der sechsten Partie - zu einem Zeitpunkt als der Engländer 0-2 im Hintertreffen lag - loste das Programm "Schweinehund" eine Ausgangsposition aus, die es Weiß ermöglichte, nach nur acht Zügen vier wichtige Figuren auf "üblichen" Feldern zu platzieren (Dd2, Lh4, Sc3, Sf3). Schwarz konnte rechtzeitig "normal" gegenhalten und die Springer auf c6 und g6 bzw. die Dame auf d7 positionieren. Nach 14 Zügen befand man sich in einem üblichen Stellungstyp - sieht man einmal von den seltsam lokalisierten Läufern auf f2 und f7 ab. Hier trifft das universelle Statement von Michael Adams zu: "Wie beim normalen Schach ist es auch beim FRC wichtig, das Zentrum zu kontrollieren und die Figurenentwicklung abzuschließen. In einigen Begegnungen versuchte ich es nach klassischem Prinzip, in anderen weniger. Vieles hängt jedoch von der Startposition ab."

 

Adams,M (2730) - Leko,P (2750)
Chess Classic Mainz 2001 FRC (6)

Anfangsstellung Fischer Random Chess

 

 

1.e4 g6 2.f4 d6 3.Sf3 Sc6 4.d3 f5 Der Aufzug des f-Bauern ist im FRC ein Standardmanöver; man greift das Bauernzentrum an, dahinter stehen die Schwerfiguren bereit. 5.exf5 gxf5 Nach 5...Dxf5 6.g3 Sf6 7.Se3 Dd7 8.Lc3 Lf7 9.Sg5 Lg8 zeigt sich das häufige Dilemma im FRC: die Koordination der Figuren. 6.Lh4 e6 7.Dd2 Sge7 8.Sc3 Sg6 9.Lf2 Dd7 10.d4 d5 11.g3 0-0-0 12.0-0-0 Kb8 13.Tde1 Lf7 14.b3 Sge7 15.Sa4 b6 16.Sb2 Sc8 17.Se5 De8 18.Dc3 Kb7 19.De3 Lg8 20.Sxc6 Dxc6 21.Sc4 Sd6 22.Sxd6+ Dxd6 23.Kb1 Lf6 24.c4 c6 25.Tc1 Lf7 Sieht aus wie eine normale Schachstellung, doch die Läufer auf f2 und f7 haben keine "richtigen" Plätze gefunden. 26.Tfe1 h5 27.h4 Tc8 28.c5 Dd7 29.a4 Tb8 30.Te2 Kc7 31.cxb6+ Txb6 32.Ka2 Tfb8 33.Tc3 Tb4 34.Dc1 T8b6 35.Tec2 Dd6 36.Dd1 Kd7 37.Lf3 Db8 38.Td2 Dh8 39.Tdd3 a5 40.Tc5 Ta6 41.Le2 Le7 42.Tc1 Lf6 43.Le1 Tb7 44.Lc3 Le8 45.Lb2 Ta8 46.De1 Ke7 47.Ld1 Dg8 48.Tc5 Tba7 49.Lc3 Dh8 50.Lb2 Kf7 51.De2 Ke7 52.Te3 Dg8 53.Dc2 Kd8 54.De2 Kd7 55.Txc6 Kxc6 56.Txe6+ Kd7 57.Txf6 Tc8 58.De5 Einfacher ist 58.Db5+ Ke7 (58...Kc7 59.Db6+ Kd7 60.Dd6#) 59.Db6 und Schwarz ist hilflos. Allerdings musste der Engländer in dieser Phase schnell ziehen, um jeweils ein 10-Sekunden-Zeitposter zu gewinnen. so läuft es letztlich auf eine Treibjagd mit dem Läuferpaar hinaus. 58...Tc6 59.Dxf5+ Kc7 60.De5+ Kb7 61.Txc6 Lxc6 62.f5 Dh7 63.f6 Ta8 64.Lxh5 Th8 65.Lf3 Te8 66.Dg5 Dc2 67.f7 1-0

 

 
   In der letzten Matchpartie, als Peter Leko ein Unentschieden zu Remis gereicht hätte, konnte Adams - trotz Zentrumsbesetzung des Weißen - schnell die Initiative ergreifen. Mit Ideen analog der Sizilianischen Verteidigung und der Pirc-Eröffnung schien er am Drücker zu sein. Nichts mehr war "zufällig", der weiße König war nach klassischen Prinzipien unter Druck geraten. Selbst nach dem Damentausch schien alles auf einen Matchausgleich zu deuten, als die weißen Türme gemeinsam das Kommando auf der siebten Reihe übernahmen - klassischer geht es nicht. Im Zeitnotdrama verpasste der Ungar es, die Kehrwende sogar mit einem Sieg auszukosten.

 

Leko,P (2730) - Adams,M (2750)
Chess Classic Mainz 2001 FRC (8)

Anfangsstellung Fischer Random Chess

 

 

1.d4 g6 2.Sd3 Lg7 3.Sf3 b5 4.e4 Sf6 5.Sd2 d6 6.b3 Dd7 7.f3 0-0 8.g4 Sb6 9.De3 Tbc8 10.Lg2 c5 11.dxc5 dxc5 12.0-0 c4 13.Se5 Dc7 14.bxc4 bxc4 15.Ld4 c3 16.Sb3 Sxe4 17.Sxg6 Sc4 18.Dd3 hxg6 19.Lxg7 Kxg7 20.fxe4 De5 21.Tf2 Tfd8 22.Df3 f6 23.Te1 a5 24.Sc1 Td2 25.Sd3 Dd4 26.Sf4 Kf7 27.Se2 De3 28.g5 Dxf3 29.Txf3 Se5 30.Th3 Txc2 31.Sd4 Td2 32.Sb3 Txa2 33.Th7+ Kg8 34.Txe7 Sd3 35.Td1 Sf4 36.Lf1 fxg5 37.Tdd7 Sh5 38.Lc4+ Kf8 39.Tf7+ Die Schlinge zugezogen hätte 39.Th7! Ke8 40.Le6 Tg2+ 41.Kf1 Sg3+ 42.Kxg2 Lxe4+ 43.Kxg3 c2 44.Th8 und Matt. 39...Ke8 ½-½

 

 
   Allein diese drei Partien verdeutlichen, wie unterschiedlich der Eröffnungsverlauf sein kann. Der Anzugsvorteil ist kaum mehr ein Faktor; es herrscht das Zufalls- (andere sagen Glück-) Prinzip. Sicher wird manchem Profi bange, wenn er weiß, dass es am nächsten Tag um ein gutes Preisgeld geht, man aber erst unmittelbar von Spielbeginn erfährt, unter welchen Konditionen der finale Countdown über die Bühne geht. Ohne mehr praktische Beispiele - auch mit Spielern unterschiedlicher Spielstärke - kann allerdings nicht belegt werden, ob Zufall mit der postulierten Chancengleichheit einhergeht.

 

Das Ende der Muster

 

   Neben der Eröffnungstheorie erfährt die Schachstrategie im FRC ebenfalls eine komplette Umdeutung. Fast alle typischen Muster, die zur Ausbildung des Positionsgefühls beitragen, greifen nicht mehr. Guter gegen schlechter Läufer, Figuren wie Se5 auf Idealfeldern, typische Umgruppierungen von Figuren, Turmmanöver auf der dritten Reihe, offene Linien usw. können zwar analog stattfinden, aber im Umfeld völlig anderer Figurenkonstellation verlieren erprobte Pläne ihre Wirkung. Ohne von Erlerntem abgeleitete Einschätzung des Zusammenspiels wird statt strategischem Planen mehr spontan mit ad hoc Lösungen primär das Überleben gesichert, immer mit der Hoffnung, dass alsbald eine Normalstellung entstehen möge. Fide-Weltmeister Viswanathan Anand hat einen trefflichen Vergleich parat: "FRC ist wie eine Stadt ohne Stadtplan und Orientierung zu durchstreifen, aber es ist auch erfrischend, denn man beginnt frühzeitig das Denken." In der zweiten Matchpartie war bereits nach sechs Zügen der Weg zu frühen Figurenabtäuschen gebahnt. Just als die Stellung ausgeglichen war, patzte Adams eine Figur ein. Dies geschah als Folge eines typischen FRC-Phänomens; nämlich des potenziellen Hängens von Türmen in der gleichen Linie. Dies unterstreicht, wie bedeutsam beim FRC das ständige in Betracht ziehen von unangenehmen Abzügen ist.

 

Adams,M (2750) - Leko,P (2730)
Chess Classic Mainz 2001 FRC (2)

Anfangsstellung Fischer Random Chess

 

 

1.c4 g6 2.d3 f5 3.Lc3 e5 4.f4 d6 5.fxe5 dxe5 6.g4 Nach nur sechs Zügen standen sich bereits zwei Figurenpaare in ungewöhnlichen Fesselungen gegenüber! Der mexikanische GM Gilberto Hernandez betont, dass er die Läufer gerne in den Ecken hätte, um sie wie im Damen- und Königsindisch als Fianchetto zu gebrauchen. Doch FRC bietet dafür keine Garantie. 6...Lc6 7.Lxc6 Sxc6 8.gxf5 gxf5 9.Se3 Sge7 10.De1 De6 11.Sc2 O-O-O 12. O-O-O Sg6 13.b3 Lf6 14.e3 f4 15.exf4 Sxf4 16.De4 Lg5 17.Kb1 Dg6 18.Dxg6 hxg6 19.d4 exd4 20.Sxd4 Sxd4 21.Txd4? Übersieht eine "hässliche" Taktik. Richtig war 21.Lxd4 a6 22.Sf3 Lf6 23.Lxf6 Txd1+ 24.Txd1 Txf6 mit gleichem Spiel. 21...Sd5! 22.Txf8 Sxc3+ 23.Kc2 Txf8 24.Tg4 Lf6 Preisfrage: Wann hatte Michael Adams nach 24 Zügen jemals eine Figur weniger? 25.a3 Le5 26.Txg6 Se4 27.h4 Tf2+ 28.Kd3 Sc5+ 29.Ke3 Ta2 30.Sf3 La1 31.h5 Txa3 32.h6 Txb3+ 33.Kf4 Tb6 34.Tg1 Tf6+ 35.Ke3 Te6+ 36.Kf4 Tf6+ 37.Ke3 Lb2 38.Th1 a5 39.h7 Tf8 40.Th2 Lf6 41.Th6 Sd7 42.Kd2 Kd8 43.Kc2 Ke7 44.Sh4 Kf7 45.Sf5 Se5 46.c5 a4 47.Se3 a3 48.Kb3 Ta8 49.Ka2 Sd3 50.Th1 Sb4+ 51.Kb3 a2 0-1

 

 
   Wie Michael Adams anmerkte, sieht sich der FRC-Neuling im ständigen Spannungsfeld: Einerseits will er stellungsgerecht handeln, andererseits möchte er vertraute Elemente der Angriffsführung anwenden. Zuvor durchdachte Vorgehensweisen haben den unbestrittenen Vorzug, dass man mögliche Konsequenzen und Zusammenhänge mit der nächsten strategischen oder taktischen Operation kennt. Eine Übertragung bereits analysierter Muster unterstützt die Bewertung der aktuellen Position. Der Maler Paul Klee beschrieb in seiner Universitätsvorlesung "Beiträge zur bildnerischen Formenlehre" im November 1921 für sein Metier ein vergleichbares Prinzip: "Wir untersuchen die Wege, die ein anderer beim Schaffen seines Werkes ging, um durch die Bekanntschaft mit den Wegen selber in Gang zu kommen." (1995, S. 91)

   Mit dem Glauben an bewährte Angriffsmotive folgte in der vierten Matchpartie der Vormarsch der Randbauern; zuerst am Königsflügel, weil ein Springer auf g3 vertrieben werden kann, dann auf dem Damenflügel mit Öffnung der Linie für den Turm. Allerdings zeigt sich sodann die Schattenseite der willkürlichen Ausgangsstellung, denn das Figurenspiel bleibt unkoordiniert zwischen Angriffsversuch und Deckung von Bauernschwächen. Das Vabanque-Spiel mit der Lockerung der Bauernstruktur um den schwarzen König wird zum Bumerang und bestärkt die These des Engländers, dass es "im FRC schwieriger ist, die Figuren zu entwickeln und zu koordinieren."

 

Michael Adams

Michael Adams

 

Leko,P (2730) - Adams,M (2750)
Chess Classic Mainz 2001 FRC (4)
 

Anfangsstellung Fischer Random Chess

 

 

1.d4 d5 2.Sg3 Sf6 3.b3 Sg6 4.Lb2 h5 5.e3 h4 6.Se2 Te8 7.Sd3 Lf5 8.f3 Lxd3 9.Txd3 e5 10.0-0-0 e4 11.fxe4 Sxe4 12.Sc3 Sxc3 13.Lxc3 La3+ 14.Kb1 a5 Die große Rochade hätte zu einer annähernd normalen Stellung geführt. 15.Df2 Df8 16.g3 hxg3 17.hxg3 a4 18.Lg2 axb3 19.axb3 Um seinen Bauern zu erhalten, muss Schwarz einen hohen Preis zahlen: Das Zusammenspiel seiner Schwerfiguren wird unterbrochen und der König freigelegt. 19...c6 20.Tf1 f6 21.Df5 Se7 22.Df4+ Ka7 23.e4 dxe4 24.Lxe4 Sd5 25.Lxd5 cxd5 26.Dc7 Dg8 27.Ld2! Strickt am Mattnetz. 27...Te6 Nach 27...Df8 28.Da5+ Kb8 29.Dxd5 heimst Weiß einen Bauern ein. 28.b4 Ta6 29.Dc5+ 1-0

 

 
   Die fünfte Matchpartie brachte ein Kuriosum, denn nur die Stellung am Damenflügel wurde durchgemischt. Ist das nur Halb-FRC, wenn der Königsflügel klassisch antritt? Wie nicht anders zu erwarten, entstand eine Partie, wie sie in jeden Informator Eingang finden könnte oder eher noch in einem Lehrbuch, da Weiß verpasste, seinen materiellen Vorteil in einen Sieg umzumünzen. Der d-Freibauer wurde nach bewährter Nimzowitsch-Manier blockiert.

 

Leko,P (2730) - Adams,M (2750)
Chess Classic Mainz 2001 FRC (5)

Anfangsstellung Fischer Random Chess

 

 

1.c4 c5 2.Sf3 b6 3.b3 Sf6 4.e3 Lxf3 5.gxf3 g6 6.Sc3 Lg7 7.Sd5 d6 8.Sxf6+ Lxf6 9.Lxf6 exf6 10.Dc3 Df5 11.f4 0-0 12.Lg2 Sa6 13.0-0 Sc7 14.d4 Se6 Spätestens jetzt erkennt man nicht mehr, dass hier eine FRC-Ausgangsstellung vorlag. 15.dxc5 dxc5 16.Td5 Txd5 17.cxd5 Sc7 18.Dc4 Se8 19.Da4 Dc8 20.Dxa7 Dd8 21.a4 f5 22.a5 bxa5 23.Dxc5 Sd6 24.Ta1 Db8 25.Dxa5 Dxb3 26.Dc5 Db8 27.Lf3 Tc8 28.Dd4 Dc7 29.Ta6 Dd8 30.Db4 Se8 31.d6 Dd7 32.Le2 Td8 33.Lb5 Db7 34.Dc5 Txd6 35.Txd6 Sxd6 36.Dxd6 ½-½ 

 

 

 

   Auch diese drei Partien veranschaulichen, wie schwer in den ungewohnten Figurenarrangements die Gratwanderung zwischen Aktivierung von erworbenem Wissen und der Abgleich mit der unmittelbaren Spielsituation ist. Die Spieler haben zunächst eine möglichst breite Ausschöpfung vorhandener Kenntnisse versucht, wie Peter Leko zu bilanzieren weiß: "Im Unterbewusstsein haben wir sicher versucht, mehr in die klassische Richtung zu gehen. Das kann sich aber schnell ändern, wenn man einmal 100 oder 200 Partien unter Wettkampfbedingungen gespielt hat." Dann wird auch der Erfahrungsschatz mit der Rochade, dem ungewöhnlichsten Zug im FRC, angewachsen sein.

 

Peter Leko

Peter Leko 

 

Die Dynamik der Rochade

 

   Anders als beim Shuffle Chess muss beim FRC der König zwischen den Türmen platziert sein, um die Rochade zu ermöglichen. Man unterscheidet die a-Rochade und die h-Rochade, aber beiden ist gemein, dass in eine Position rochiert wird, die man vom klassischen Schach gewöhnt ist. Dies bringt es mit sich, dass ein König schon mal einzügig von b1 nach g1 "flüchtet". Für jede Farbe ergeben sich 42 Möglichkeiten, die Majestät in Sicherheit zu bringen.

   Bisweilen "springt" der König also zum entgegengesetzten Flügel weg und wirft dadurch ganze Angriffpläne schlagartig über den Haufen. Diese Dynamik verleiht dem Spiel mehr Vielfalt, fordert aber die Spieler in noch größerem Maß. Der israelische Fide-Meister und Psychologe Amatzia Avni nennt dieses Prinzip "die Überraschung des Ortes" (1998, S. 30ff.), denn Schach ist ein Spiel der lokalen Kräftebündelung. Wird der Angriffsmasse das Objekt entzogen - in diesem Fall durch einen Flügelwechsel ("outflanking") - dann kann die ganze Partie kippen.

   In der dritten Matchpartie wurde der weite Satz erstmals praktiziert, allerdings diesmal ohne Überraschungselement, da man sich in frühem Partiestadium befand und noch keine Ausrichtung auf einen Flügel stattgefunden hatte.

 

Adams,M (2730) - Leko,P (2750)
Chess Classic Mainz 2001 FRC (3)

Anfangsstellung Fischer Random Chess

 

 

1.d4 d5 2.h3 c6 3.Sf3 e6 4.Lh2 Ld6 Auch daran muss man sich im FRC gewöhnen: Auf Diagonalen können schon im Eröffnungsstadium Mattgefahren oder Angriffe auf "eingekeilte" Schwerfiguren drohen. Daher kommt man nicht umhin, Leichtfiguren abzutauschen. 5.Lxd6 Sxd6 6.e3 Sg6 7.Ld3 Dc7 8.Sg3 f5 9.0-0 Die Rochade im FRC ist der Katapult, der zu vertrauten Positionsmustern führen kann. Schade für den Spieler, dessen König auf ungewohntem Terrain hängen bleibt. Schwarz könnte es hier dem Anziehende gleichtun: nur noch den Läufer auf g8 raus und dann die Majestät auf dem Königsflügel in Sicherheit bringen. 9...Se4 10.Se2 e5 11.b4 Eine beachtenswerte Alternative war Le6 nebst Rochade zum Königsflügel. Dann herrschte Schachalltag. 11...exd4 12.Sexd4 Tf8 13.Tc1 Se5 14.Sxe5 Dxe5 15.Sf3 Df6 16.c4 dxc4 17.Lxc4 0-0-0 18.Ld3 Ld5 19.Dc2 Kb8 20.a4 Sg5 21.Sxg5 Dxg5 22.Lf1 Le4 23.Dc5 h6 24.De5+ Ka8 25.Td1 Tde8 26.Dc7 Tc8 27.De5 Tce8 28.Dc7 Tc8 29.Dd6 f4 30.exf4 Txf4 31.Td4 Tf6 32.De7 Ld5 33.Te1 Df5 34.De3 Te6 ½-½

 

 
   Auch das zweite Beispiel der Spitzenkönner veranschaulicht keine einseitige Wende, wie sie im Prominenten- und Journalistenturnier häufiger vorkam. In der vorletzten Begegnung gelang es beiden Großmeistern, die Könige aus der c-Linie mit der kurzen Rochade in die Königsecke zu bugsieren. Dies erlaubte den restlichen Figuren relativ zügig, in ein klassisches Spielgeschehen überzuleiten. Allerdings zeigte sich erneut der Trend, dass gesicherte Königstellungen zwar eine feine Sache sind, aber Figurenabtäusche kurz vor der Rochade oder unmittelbar nach den Verlassen der Grundlinie damit einhergehen. Das Spiel verflacht zumeist ereignislos.

 

Adams,M (2730) - Leko,P (2750)
Chess Classic Mainz 2001 FRC (7)

Anfangsstellung Fischer Random Chess

 

 

1.d4 d5 2.c3 f6 3.e4 dxe4 4.Lxe4 Lg6 5.Shg3 c6 6.f3 Sf7 7.Se3 Sd6 8.Sef5 Df7 9.Sxd6+ Lxd6 10.Df2 Sd7 11.Ld2 0-0 12.0-0 Mit einem Schlag haben beide Spieler das dynamische Element der Rochade zu nutzen gewusst. Die Könige sind in Sicherheit, und alle Figuren müssen "umdenken". Aber Leko hat mit einem Punkt Vorsprung verständlicherweise das Remis im Sinn. 12...Lxg3 13.Dxg3 e5 14.Lxg6 Dxg6 15.Le3 Dxg3 16.hxg3 exd4 17.Lxd4 c5 18.Lf2 b6 19.g4 Se5 20.Tfd1 Tad8 21.b3 Sd3 22.Lg3 Td7 23.Td2 Tfd8 24.Te2 Kf7 25.Kf1 Tc8 26.a4 c4 27.b4 a6 28.Te4 Te7 29.Td4 Tee8 30.Ta2 Ted8 31.Te4 Te8 32.Td4 Ted8 33.Te4 Te8 34.Td4 ½-½

 

 
   Die beiden Partien deuten an, welchen herausragenden Stellenwert die Rochade im Frühstadium einer FRC-Begegnung hat. Angesichts von insgesamt 84 Optionen zu rochieren und der Notwendigkeit, Figuren zu entwickeln und umzugruppieren, während die Grundlinie für die "extraordinären" Königszüge freigeräumt werden muss, bedarf es noch einer großen Anzahl von Praxisbeispielen, um die Mechanismen der dynamischen Rochade exakter zu erfassen.


Teil 1  

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  Teil 3