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Denken heißt Überschreiten"

Reformpläne im Schach oder mit dem Zufallsprinzip wider die Datenbank

von Harald Fietz, Dezember 2001, Fotos Eric van Reem und Stefan Kassel

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   Der erste Schachsommer im neuen Jahrhundert war nicht nur durch das Auftreten der beiden neuen Weltmeister geprägt, sondern durch den ersten bedeutenden Praxistext im Fischer Random Chess (FRC). Neben dem "Duell der Weltmeister" hatte es sich Hans-Walter Schmitt als Organisator der Chess Classic Mainz auf die Fahne geschrieben, diese Variante des Schachs auf Top-Niveau zu präsentieren. Das Acht-Partien-Match zwischen Peter Leko und Michael Adams sorgte dafür, dass die breite Schachöffentlichkeit von einer Innovation des amerikanischen Schachgenies Kenntnis nahm, die bislang eher dem Hörensagen nach bekannt war und allenfalls zu den Kuriositäten des königlichen Spieles gerechnet wurde.

   Zunächst wird beim FRC "die Mannschaft auf der Grundlinie" ausgelost. Dann gilt es, sich von Beginn im Labyrinth ungewöhnlicher Bauern- und Figurenkonstellationen zurechtzufinden. Der versierte Eröffnungskenner befindet sich auf absolutem Neuland, und ein einziger Fehlzug kann bereits fatale Folgen zeitigen. Unbekanntes Terrain erfordert das Abstreifen von Denkschablonen, aber ist es wirklich diese Qualität, die dem FRC künftig einen respektablen Platz neben dem Normalschach eröffnen kann? Selbst Koryphäen sind noch zögerlich.

   

Fide-Weltmeister Viswanathan Anand

Fide-Weltmeister Viswanathan Anand
 

   Fide-Weltmeister Viswanathan Anand wäre bereit, an hochkarätigen FRC-Wettbewerben teilzunehmen, ist sich aber des Stellenwerts noch unsicher: "Lasst uns zuerst sehen, wie die Öffentlichkeit, die Presse und die Spieler es akzeptieren." Wer allerdings akzeptieren will, muss kennen. Wer kennen will, muss Wissen haben. Nur wer weiß, der kann beurteilen. Ist das klassische Schach etwa eine vom Aussterben bedrohte Denksport-Gattung? Dieser Frage soll mit aktuellen Stellungnahmen von Spielern unterschiedlicher Wertungsstärke nachgespürt werden.

 

Ausgereiztes Schach?

 

   Als sich der meistgefeiertste Schachjubilar dieses Jahres, der 70-jährige Viktor Kortschnoi, 1952 auf sein erstes Finale der UdSSR-Meisterschaft vorbereitete, beschloss er, die Grünfeld-Indische Eröffnung in sein Repertoire aufzunehmen. Zu diesem Zweck trug der staatlich finanzierte Schach-Profi aus unterschiedlichen Quellen zirka 100 Partien handschriftlich zusammen, die nach intensiver Durchsicht den Grundstock für ein erfolgreiches Debüt im neben den Weltmeisterschaften stärksten Wettbewerb jener Tage bildeten. Der sechste Platz unter 20 Teilnehmern ließ aufhorchen.

   Ein knappes halbes Jahrhundert später wählte der WM-Herausforderer Wladimir Kramnik die gleiche Vorgehensweise. Die Berliner Verteidigung in der Spanischen Partie wurde neu ins Arsenal aufgenommen, um das Fundament für die Erringung der höchsten Schachkrone zu legen.

   

Weltmeister Wladimir Kramnik

Weltmeister Wladimir Kramnik
 

   Doch die Vorbereitung gestaltete sich grundverschieden. Nicht nur die Datenbasis auch die Datenbearbeitung hat sich gewandelt. Ende 2000 wies die Datenbank des marktführenden Unternehmens einen Bestand von etwa 1,4 Millionen Partien auf (davon rund 2.500 Partien zu C67); mit den drei Großmeister-Sekundanten Jewgeni Barejew, Miguel Illescas und Joel Lautier arbeitete die menschliche Analysemaschinerie rund um die Uhr. Das Ergebnis war im gewünschten Sinne, denn viermal prallten Garri Kasparows Angriffsbemühungen wirkungslos ab.

 

   Diese Folgen moderner Eröffnungskunde sind charakteristisch für den Trend im gegenwärtigen Spitzenschach: Eine Variante wird in allen Nuancen durchforstet, um in erster Linie das Spiel des Gegners zu neutralisieren. Frustrieren des Großmeister-Kollegen wird zum Motto turniertaktischer Ränkespiele. Der Terminus "Auspräparieren" scheint seit der Braingames-WM salonfähig. Neuere Untersuchungen an der Uni Konstanz, die die Gehirnaktivität von Spielern unterschiedlicher Spielniveaus erforschten, offenbaren, "dass gute Schachspieler mehr oder weniger wie Datenspeicher funktionieren, die Eröffnungen, Kombinationen, zwingende Endspielfolgen etc. zur gegebenen Zeit abrufen können" (Palm 2001). Die analytische Arbeit an Eröffnungssystemen, wie z. B. der Grünfeld-Indischen oder der Russischen Verteidigung, mündet in den Zustand, dass Abspiele ad acta gelegt werden oder die Remisbreite selten verlassen. Ein Abweichen vom "Mainstream" der Eröffnungstheorie stellt bereits eine erwähnenswerte Ausnahme dar, wie Peter Swidler in seiner 25-zügigen Tiefenanalyse der Grünfeld-Indischen Verteidigung en passant bemerkt: "Höchste Anerkennung zolle ich Pawel Tregubow, der hier mit 15.Ld3!? trotz aller Kramnik'schen Vorbilder einfach einen ‚eigenen' Zug spielte - ein höchst seltenes Vorkommnis in unserer Zeit!" (in: Schach, Nr. 8, S. 59). Querdenken gilt als fast genial. Einfach Eigenes spielen versetzt in Erstaunen, denn das theoretische Bollwerk hat die Plage der Kurzremisen in den 70er und 80er Jahren abgelöst.

   

Peter Swidler

Peter Swidler

 

   Gerade diesem Trend will FRC den Kampf ansagen. Befragt zum wichtigsten Unterscheidungsmerkmal zwischen dem klassischen Schach und FRC äußert sich der in der Schweiz beheimatete und aus der Sowjetunion stammende GM Vadim Milov in gutem Deutsch - allerdings mit einer sinnfälligen Verwechselung der Begriffe "Wirtschaft" und "Wissenschaft". Seiner Meinung nach "ist Schach unter anderem eine Wirtschaft, und beim FRC wird man auf großen Teil der Schachwirtschaft - auf die Theorie verzichten müssen." Eine Symbiose aus ökonomisch rationellem Ressourceneinsatz und systematischem Forscheraktivitäten betreiben Profis heutzutage. Die Top-Könner umgeben sich mit Strukturen wie kleine Unternehmen mit einem ständigen Stab von Sekundanten, Manager und u.U. Berichterstattern im Umfeld. Sie wandeln auf dem Pfad der teamgestützten Suche nach Neuerungen und der stetigen Sichtung und Verwaltung wachsender Datenmengen. Peter Lekos Statement unterstreicht dies nachdrücklich: "Das klassische Schach begünstigt in der Regel den ‚Schachsportler' unter den Großmeistern. Derjenige, dessen Vorbereitung - vornehmlich im Eröffnungsbereich - am besten zum Tragen kommt, hat einen großen Vorteil. Dafür muss man hart und effektiv arbeiten. Viel Zeit und Energie ist erforderlich, um überhaupt wettbewerbsfähig zu sein."

   Kann eine Hinwendung zum FRC den Weg zu bahnen, die Theorieüberfrachtung einzudämmen und der Schachszene wieder mehr Genuss am "natürlichen" Spiel geben? Der "Naturspieler", wie Emanuel Lasker ihn titulierte, ist kaum mehr präsent. In seinen Betrachtungen zum Schachspiel aus den Jahre 1931 pries er diesen Spielertypus zwar, hob aber auch sein Manko hervor: "Er wagt mehr als der Buchspieler und unterliegt ihm für gewöhnlich, aber er ist dennoch auf dem rechten Wege, denn der Buchspieler hat vielmehr Mühe und ist viel einseitiger als der Naturspieler. Insbesondere bei großen Meistern zeigt sich dieser Gegensatz in hellem Lichte. Der Buchspieler kann nur höchstens der Mittelmäßige werden, im Naturspieler aber fließt der Born des schöpferischen Geistes" (zitiert in Lembecke 2001, S. 138) Das Streben nach der Ursprünglichkeit des Spiels als intellektuellem Kräfteringen und nicht als Zusammenpuzzeln memorierter Strategie- und Taktikelemente war zu allen Zeiten ein Thema. Zwei kurze Spotlights auf die beiden vergangenen Jahrhunderte verdeutlichen aber, dass das klassische Spiel bisher immer überlebte.

 

Kieseritzkys Bauernpartie

 

   Reformversuche sind im Schach nichts Neues. Bereits an der Schwelle zum 19. Jahrhundert gab es einen Vorschlag, die Ausgangsstellung der Figuren durch Los zu bestimmen - ohne allerdings der Rochade Bedeutung beizumessen. Philip Julius, der Graf van Zuylen van Nijevelt, brachte 1792 die Idee vor, "dass sich dann die Positionen unweigerlich von einander unterscheiden und es nicht mehr möglich ist, diese zuvor zu studieren". Vielleicht graute es dem niederländischen General in Diensten Napoleons davor - anders als in richtigen Schlachten -, immer mit der gleichen Kampfformation konfrontiert zu sein.

   Noch mehr dem Ansatz verhaftet, Schach als eine Art strategische Kriegsführung zu begreifen, war eine Anregung, die der durch seine Niederlage in der "Unsterblichen Partie" bekannt gewordene Lionel Kieseritzky in Pariser Schachkreise einbrachte. In dem von ihm redaktionell bearbeiteten Journal "La Regence" veröffentlichte er 1849 die Anleitungen zur so genannten "Bauernpartie". Statt gleichberechtigter Heere sollten unterschiedliche Kräfteverhältnisse gegeneinander antreten. So hatte der 1806 in Tartu (Estland) geborene Schachprofi beispielsweise im Jahre 1846 Partien veröffentlicht, bei denen nur die Ausgangsstellung der weißen Formation verändert war. Statt eines Turms auf a1 bekam Weiß drei Zentrumsbauern als Kompensation (auf c4, d4 und f4) oder - besonders krass - für ein Spiel ohne Dame erhielt der Spieler mit Anzugsvorteil acht zusätzliche Bauern (wahlweise auf b3, b4, c3, c4 plus f3, f4, g3 g4 oder b3, c3, c4, d4, e4, f3, f4, g3). In der Regel erwies sich aber die Durchschlagskraft der schwarzen Figuren als überlegen, daran änderte auch die "Aufwertung" der weißen "Belegschaft" auf neun zusätzliche Bauern nichts: 17 "Schutzposten" konnten den Zugriff auf den König nicht verhindern, sobald offene Linien vorhanden waren. Diese Variante des "Vorwärtsschachs", die mehr einem Einengungskrieg oder einem Kesseltreiben entsprach, fand letztlich wenig Verbreitung; wahrscheinlich deshalb, weil es zu viele unorthodoxe Ausgangstypen gab und sich bald herausstellte, dass Klasse Masse ausmanövriert.

 

Capablancas Reformideen

 

   Die klassischen acht Bauern pro Spieler gaben dem Spiel in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weiterhin genug "Seele" - die Schachprinzipien wandelten sich allerdings vom wild-romantischen Draufgängertum zum positionellen Arsenal in der Steinitz-Ära. Vermeidung von Schwächen, Anhäufung kleiner Positionsvorteile, Besetzen des Zentrums hießen die Säulen der Schachauffassung vor dem 1. Weltkrieg. Diese Fundamente der Schachstrategie wurden erst allmählich um jene dynamischen Elemente bereichert, die Nimzowitsch, Breyer, Reti, Aljechin und andere nach 1920 einführten. Asymmetrische Eröffnungsbehandlung - wider "eine stumpfsinnige Gleichgewichtserschöpfung" (Tartakower 1925, S. 8) - war angesagt. Begriffe wie "Sprengungsmanöver", "hängende" Bauern, Kontrolle des Zentrums durch Fianchetto-Läufer usw. kamen neu auf die Tagesordnung, derweil sich insbesondere die indischen Eröffnungssysteme herausbildeten.

   Doch einer wollte der Zukunft dieser Eröffnungen keinen rechten Glauben schenken. José Raoul Capablanca folgte den orthodoxen Prinzipien, selbst nachdem er beim New Yorker Turnier 1924 mit einer Niederlage gegen Reti und sein System den Ruf einbüßte, unschlagbar zu sein. Beim WM-Kampf 1927 stand in 32 von 34 Partien Damengambit zur Diskussion und nicht ganz zu Unrecht wurde der Kubaner bereits 1923 von Tartakower als "Verkünder der Schachmechanisierung" tituliert (Wiener Schachzeitung Nr. 5, S. 130). Er befürchtete, dass Schachtechnik "ein dominierender Faktor" werden würde, wodurch das Schachspiel in seiner Vielfalt dem Damespiel ähnlicher werden würde. Schach werde dem "Remistod" erliegen. Er bemängelte nicht nur die Entwicklung der Spielanlage, sondern schlug in die gleiche Kerbe wie die Befürworter des FRC: "My sole aim is to bring chess up to the level of an art, for I believe it is that to be, and not merely a scientific recreation wherein memory is the main requisite. … It is only a question of years when modifications will be imperative." (American Chess Bulletin 1928, zitiert in Winter 1989, S. 176) Mit einer Ausweitung der Felderzahl beabsichtigte er, die "artistische Komponente" aufzuwerten. Die heute aus dem Janusschach bekannte zusätzliche Figur, die die Gangarten von Läufer und Springer vereint, sollte an einem Flügel eingesetzt werden, während am anderen eine Kombination aus Turm und Springer neue Spielvariationen ergeben sollte. Capablanca bevorzugte ein Brett mit 10x8 Feldern. Als weitere Option schlug er vor, dass Bauern ein, zwei oder auch drei Schritte ziehen dürfen (in: Revista Bimestre Cubana, Nr. 2, 1926, Reprint in Winter 1989, S. 130). Doch selbst sein eigenes Engagement für diese Varianten des Schach und zwei Partien im so genannten "Double Chess" (zwei normale Schachbretter mit zwei Figurensätzen in normaler Ausgangsposition nebeneinander und zwölf Reihen, das heißt 192 Felder) gegen Geza Maroczy im renommierten London Royal Automobile Club im Jahre 1929 konnten keine Euphorie entfachen. Die Bemühungen schliefen in den 30er Jahren ein.

   Aktueller denn je bleibt allerdings die in der "Times" vom 24. November 1928 gegebene radikale Einschätzung des dritten Weltmeisters, welche generell das Überbordwerfen tradierteren Eröffnungswissens betrifft: "It is not difficult to see what a new term of life would be given to the game. All the memorization and theoretical experience of the present would be gone from the game, which would be open only to the real chess-playing virtues - large conception, imagination, self-reliance, and hard thinking - while an inexhaustible area would be available for combination, and thus the spirit and essence of chessplay would remain intact." (zitiert in Winter 1989, S. 180)

   Sein Vorgänger als Weltmeister, Emanuel Lasker, orakelte anno 1924 vorsichtiger über Zukunft des Schachs: "Die geschichtliche Mission des Schachs ist indessen bei weitem noch nicht abgeschlossen. Es wird sich in kommenden Jahrhunderten noch entwickeln oder ändern. Aber, von kleinen Änderungen abgesehen, scheint mir das Schach, das doch einem bestimmten Bedürfnis des menschlichen Geistes entsprechen soll, ein genügend einfaches und zugleich genügend verwickeltes Spiel zu sein." (Wiener Schachzeitung, Nr. 14/16, S. 232) Leider ließ er offen, an welche "kleinen Änderungen" er dachte.


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  Teil 2