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Britisches Kanonenfutter ebnet Carlsen den Weg

Norweger bekommt nach WM-Boykott aber in London von Anand und Kramnik die Grenzen aufgezeigt

von FM Hartmut Metz, 19. Dezember 2010

 

Der Aufregung rund um die 64 kleinkarierten Felder dürfte jetzt Verständnis weichen. Die Schach-Fans verstehen langsam, warum Magnus Carlsen aus dem WM-Zyklus ausgestiegen ist. Die Argumente lieferte der norwegische Jungstar bei den London Chess Classic selbst auf dem Brett - obwohl der 20-Jährige die 50000 Euro Siegprämie einstrich.

Carlsen lag nach den sieben Runden nur dank der im Schach unüblichen Drei-Punkte-Regelung vorne. Auf die Frage, ob er diese nun möge, gestand der Fußball-Fan grinsend: "Jetzt mit Sicherheit!" Dank der vier Siege und einem Remis, das lediglich einen Zähler einbringt, ging der Weltranglistenzweite aus Lommedalen mit 13 Punkten vor dem Inder Viswanathan Anand und der britischen Überraschung Luke McShane (beide elf), Hikaru Nakamura (USA) und dem Russen Wladimir Kramnik (beide zehn) über die Ziellinie. Nach herkömmlicher Platzvergabe wäre Carlsen zwar wie Weltmeister Anand und McShane auf 4,5:2,5 Zähler gekommen - aber durch die Niederlagen im direkten Vergleich gegen die beiden ungeschlagenen Großmeister hätte der Shootingstar der Denker-Szene nach Feinwertung nur Rang drei belegt.

Aber auch so erwies sich die zweite Turnierauflage in London für McShane als größter Erfolg. Der Oxford-Mathematiker war mit seinen Landsleuten am Ende des achtköpfigen Feldes erwartet worden. Der ehemalige U10-Weltmeister hatte in der letzten Runde Dusel, als ihn David Howell ängstlich in ein Remis entkommen ließ. In Zeitnot wiederholte der Bremer Bundesligaspieler liebend gerne die Züge, wonach Legende Garri Kasparow als Gastkommentator über den Friedensschluss ätzte: "Ist Howell Mitglied bei Amnesty International?"

Weil Carlsen gegen Spieler außerhalb der Top 5 keine Gefangenen macht, kann er sich ab Januar wieder auf die Spuren seines kurzzeitigen Trainers begeben. Kasparow stand 255 Monate an der Spitze der Weltrangliste. Hauchdünn übernimmt der Baden-Badener Bundesligaspieler wieder Platz eins von seinem Vereinskameraden Anand, der sich Anfang November nach vorne geschoben hatte. Damit erfüllt der Skandinavier seine eigene Vorgabe, "meine Fertigkeiten als Spieler zu entwickeln und meine Position als Weltranglistenerster zu verteidigen" zumindest zur Hälfte.

Weltmeister wird Carlsen aber nach seinem vor kurzem verkündeten WM-Boykott nicht. Das einstige Wunderkind beklagte "permanente Änderungen" der Regularien des Schach-Weltverbandes FIDE. "Es strengt mich zu sehr an, mich dauernd mit den politischen Entscheidungen zu befassen." Seine langfristigen Hoffnungen auf den WM-Titel will der Jungstar allerdings damit nicht begraben. "Nein, nein, absolut nicht", dementiert der Großmeister, "es ist klar, dass ich wieder dabei bin."

Zwei Punkte kritisiert Carlsen in seinem offenen Brief an die FIDE besonders: Dass Weltmeister Anand fürs Finale gesetzt ist und auf seinen Herausforderer wartet. Den ermitteln die Weltbesten in Zweikämpfen im K.o.-Modus. Beides will der Weltranglistenzweite durch ein einziges Turnier ohne Privilegien des Weltmeisters ersetzt sehen - im Fußball müsse der Weltmeister schließlich auch unter gleichen Bedingungen wie alle antreten. Der Weltranglistendritte Lewon Aronjan widerspricht: "Wir sind nicht beim Fußball. Schach ist was anderes, auch unsere WM-Tradition", nimmt der in Berlin lebende Armenier Bezug auf die eineinhalb Jahrhunderte alte Zweikampf-Historie. Der Israeli Boris Gelfand pflichtet bei und findet es "krass, ohne leicht ersichtlichen Grund" aus der WM-Qualifikation auszusteigen. Selbst Anand stimmt es "traurig", dass sein Rivale das Rennen um das WM-Finale in London 2012 vorzeitig aufgab.

Vielleicht hat Carlsen aber auch eine eigene Erkenntnis zum Ausstieg gebracht? Dass es nämlich gegen die ganz Großen in Zweikämpfen nämlich noch nicht reicht. Bei den Chess Classic kassierte er nicht nur eine empfindliche Niederlage gegen Anand. Der "Tiger von Madras" baute seine Bilanz 2010 in Turnierpartien damit auf zwei Siege und vier Unentschieden aus. Noch schlimmer sieht es für den Norweger gegen Kramnik aus. Der Weltranglistenvierte überspielte ihn mit leichter Hand, versäumte es dann aber, die haushohe Gewinnstellung heimzuschaukeln - dann stünde seine Jahresbilanz gegen Carlsen nicht "nur" bei 3:1! Der 20-Jährige gewann nämlich nur deshalb die Chess Classic, weil er die vier Schlusslichter schlug - und bei einem WM-Turnier mit vielen Spielern hätte Carlsen auch genügend Kanonenfutter, um doch vor Anand und Kramnik zu landen.

Die entscheidende sechste Runde kostete den Russen den Turniersieg.











Kramnik,W (2791) - Carlsen,M (2802) [D07]
London Chess Classic London, 14.12.2010

1.d4 d5 2.c4 Sc6 Die als zweifelhaft geltende Tschigorin-Verteidigung. "Glaubt Carlsen, er könne alles spielen?", fragt sich Michail Golubew in seinen Kommentaren für die tägliche digitale Publikation "Chess Today". 3.Sf3 Lg4 4.Sc3 e6 5.Lf4 Ld6!? 6.Lg3 Sf6 7.e3 0-0 8.a3 Se7N Eine neue Fortsetzung. 9.Db3 b6 10.Se5 c5 11.Sxg4 Sxg4 12.Td1 Lxg3 13.hxg3 Sf6 14.cxd5 exd5 15.Le2+/= Dd6 16.Dc2 h6 17.0-0 c4 18.b3! Öffnet die Stellung und bringt den Läufer zur Geltung. 18...Dxa3 19.bxc4 dxc4?! [ 19...Dd6 gefällt den Kommentatoren und Programmen besser.] 20.Lf3! Der Verzicht auf das Schlagen des c4-Bauern aktiviert die weißen Figuren. 20...Tab8 21.Ta1 Dd6 22.Sb5 Dd7 23.Dxc4! a5 24.e4+/- Die zwei Freibauern am Damenflügel rauben Kramnik nicht den Schlaf. Diese sind zuverlässig blockiert. Dafür dominieren sein d- und e-Bauer das Zentrum, weshalb Carlsen mit seinen eingeengten Figuren bereits ums Remis kämpfen muss. 24...Tfc8 25.De2 Tc6 26.Tab1 Td8 27.Tfd1 Tdc8 28.d5 Tc2 29.De3 T2c5 30.Sd4 Te8 31.Dd3 Dd6 32.Da6 Tb8 33.Sb3 Tc2 34.Sd4 Tc5 35.Sb3 Tc2 36.Dd3 Tcc8 37.Sd2 Sg6 38.Le2 Dc5?! [ 38...Se5 39.Dd4 Sfd7 40.f4 Sc6 41.De3 Sb4 42.Sc4 Dc5 verteidigt sich hartnäckiger.] 39.Tb5 Dc3 40.f4 a4 41.e5! Weiß rückt mit seinen Bauern gefährlich vor. 41...Sd7 42.Dxc3 Txc3 43.Se4 Schwarz steht positionell im Hemd. 43...Tc7 44.Ta1 Ta7 45.d6?! Kein dramatischer Fehler, aber die Bauern werden festgelegt und e6 als Option vorerst aufgegeben. Sehr einfach sieht [ 45.Ta3!+- aus. Danach dürfte einer der beiden Bauern verloren gehen. Ein Beispiel: 45...Se7 46.d6 Sc6 47.Lg4 Sf8 48.Sc3 Sd4 49.Tb4 Sc2 50.Tbxa4 Txa4 51.Txa4 b5 52.Ta2 Sd4 53.Tb2+- ] 45...Sgf8 46.Sc3 Sc5 47.Sd5 Ta5 48.Txb6 Txb6 49.Sxb6 Sfe6 50.Lc4 Kf8 51.f5 Sd8 52.Tf1!? Scb7! 53.Te1 a3 54.e6? [ 54.d7! gewinnt: 54...a2 55.Lxa2 Txa2 56.e6 Sc6 57.e7+ Sxe7 58.Sc8!! Die Pointe entgeht einem natürlich leicht. Schwarz kann den Springer wegen des Grundlinienmatts auf e8 nicht ziehen. 58...Td2 59.Txe7 f6 60.Kf1 Mit einem Königsmarsch leitet Weiß das Ende der Partie ein. 60...Td5 61.g4 Td2 62.Ke1 Td5 63.Kf2 Td3 64.Ke2 Td5 65.Kf3 Td1 66.Kg3 Td2 67.Kh4 Td1 68.Kh5 Td4 69.g5!! fxg5 70.f6 gxf6 71.Kg6 und das Matt lässt nicht mehr lange auf sich warten.] 54...fxe6 55.fxe6 Sxd6 56.e7+ Ke8 57.exd8T+ Kxd8 58.Td1 Kc7 59.La2 Kramnik hat sich eine Mehrfigur gesichert. Angesichts der dezimierten Bauernzahl und wegen seines Doppelbauern ist der Gewinn aber nicht so leicht, wie es auf den ersten Blick erscheint. 59...Tg5? [ 59...Tc5!? ist laut den Schach-Programmen angebracht.] 60.Sd5+ Kc6 61.Sc3 [ 61.Td3!? Se4 gibt den g3-Bauern für den auf a3.] 61...Tc5 62.Txd6+? [ 62.Td3+/- Bei später wieder aufkommender Zeitnot dürfte es vernünftiger sein, die Türme auf dem Brett zu behalten. Dann kann man selbst bei Tausch aller Bauern noch ein tückisches Endspiel mit Turm und Läufer gegen Turm anpeilen. In dem muss die unterlegene Partei genau spielen, um nicht zu unterliegen.] 62...Kxd6 63.Se4+ Kc6 64.Sxc5 Kxc5 65.Kf2 Kd4 66.Kf3?! [ 66.Ke2 schlug der ehemalige Weltmeister Garri Kasparow vor. 66...Kc3 67.Ke3 Kb2 68.Lf7 Kc3 69.g4 Kc2 70.Kd4 Kd2 71.Lb3 Ke2 72.Kc3 Kf2 73.Ld5 Kg3 74.g5! und Weiß gewinnt, egal ob 74...hxg5 oder ( 74...h5 75.g6 folgt.) ] 66...Kd3 67.g4 Kd2 68.Le6 [ Schwarz hofft auf 68.Kf4 Ke2 69.g5 hxg5+ 70.Kxg5 Kf2! 71.g4 Kf3 72.Kf5 g6+! 73.Kg5 Kg3 74.Ld5 Kh3 75.Kf4 Kh4 76.g5 Kh5! 77.Lf7 Kh4 und Weiß kann keinen Fortschritt mehr erzielen.] 68...Kd3 69.Kg3?? Vergibt den Sieg. [ 69.g5! gewinnt dagegen. 69...hxg5 70.g3! Kd4 71.Kg4 Ke5 72.La2 Ke4 73.Kxg5 Kf3 74.Kh4 Ke3 75.Kg4 Ke4 76.Lf7 Ke3 77.Lb3 Ke4 78.La2 Ke3 79.Lb1 Kf2 80.Kf4 Kg2 81.g4 Kf2 82.g5 Kg2 83.La2 Kh3 84.Lb3 Kh4 85.Kf5 Kh5 86.Le6 Kh4 87.Kg6 Kg3 88.Kxg7 ] 69...Ke3 70.Kh4 Kf2= 71.Ld5 g6 72.Kh3 g5! 73.Kh2 Kf1 74.Le6 Kf2 75.Lc4 Ke3 76.Kg3 Kd4! 77.Le6 Ke3 Weiß kann seinen König nicht mehr aktivieren, ohne den g4-Bauern zu verlieren. Daher zeichnet sich das Remis ab. 78.Kh2 Kf2 79.Lc4 Ke3 80.Kg1 Kf4 81.Le6 Ke5 82.Lb3 Kf4 83.Le6 Ke5 84.Lb3 Kf4 85.Le6 Ke5 86.Lb3 1/2-1/2



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