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Die Seele des Schachspiels

Pyâdah

von Patrick Karcher, 23. Oktober 2011

 

Wer ist als einzelner so schwach aber in seiner Gesamtheit so stark und spielbestimmend? Richtig, der Fußsoldat - Bauer oder eben persisch "Pyâdah"! Vermag er auch nur ein Feld vorwärts zu ziehen, so ist sein Gift die Fähigkeit des Selbstopfers. Im Tausch gegen jede andere Figur kann er sich zum Mehrwert seiner Kameraden aufopfern. Gerade sein geringer Materialwert ist eine seiner entscheidenden Stärken, schließlich müssen alle gegnerischen Figuren die Felder meiden, die er kontrolliert. Er schränkt damit die Kraft der feindlichen Armee entscheidend ein. Umgekehrt kann ein zu tollkühner Bauer beim Vorstoßen ins feindliche Lager dem Gegner mitunter Kontermöglichkeiten durch geschwächte Felder, Linien und Diagonalen erlauben. Da Bauern nicht zurückziehen können bleiben diese Schwächen über eine lange Phase der Partie erhalten. Zudem geht ein gewisses Maß an Flexibilität dabei verloren, da sich mit jedem Bauernzug die Möglichkeiten für das Voranschreiten der Fußsoldaten als ganzes verringern. Ist dieser Schuft jedoch erst einmal bis zur Grundreihe vorgestoßen, verwandelt sich der provokante Revolutionär gar in eine beliebige andere Figur!

I. Stellungstyp & Quiz:

Die Bauern in ihrer Gesamtheit bestimmen die Charakteristik und damit das Spielgeschehen einer Stellung, deshalb nannte der große Philidor die Bauern auch die "Seele des Schachspiels". Angefangen von den Zentralbauern über den c-Bauern und f-Bauern hin bis zu den Randbauern. Eine grobe Unterteilung der Stellung findet statt aufgrund der Bauernstruktur in offene, geschlossene oder halboffene Stellungen. Doch was ist eine halboffene Stellung genau? Nur sehr wenige Spieler werden eine richtige und sogleich einfache Erklärung vorbringen können. Doch um Halbwahrheiten sind die wenigsten verlegen!

=> Jeder Leser ist an dieser Stelle aufgerufen mir eine Definition für offene Stellungen, geschlossene Stellungen und halboffene Stellungen zuzusenden. Die beste Definition werde ich im nächsten DWZ-Plus lobend hervorheben!

Die Bauernstruktur bestimmt also zu wesentlichen Teilen die Spielpläne. Doch bevor wir zu diesen kommen folgt eine Analyse über die Wechselwirkung zwischen eigenen und gegnerischen Bauern.

II. Wechselwirkung der Bauern

Ein weißer und ein schwarzer Bauer auf der gleichen Linie vermögen nicht aneinander vorbeizuziehen, sie bieten sich die Stirn und blockieren sich zuverlässig. Ein weißer Bauer kann an seinem schwarzen Nachbarbauern jedoch vorbeiziehen, gibt diesem jedoch zumindest einen Zug lang die Chance zum Tausch an. Das ist - frei nach Nimzowitsch - so wie wenn sich zwei Nachbarn auf dem Hausflur begegnen und ein Schwätzchen halten! Zu beachten ist dabei, dass sich mit jedem Schlagen eines Bauern der Typus der Stellung ändert! Aber was passiert genau dabei? Mit dem Schlagen eines Bauern gewinnt die schlagende Partei vorübergehend einen Bauern und erhält dabei eine halboffene Linie, aber auch einen Doppelbauern. Schlägt die nachziehende Partei den Bauern mit einem Bauern zurück, so ergibt sich eine neue Struktur. Im symmetrischen Schlagfall mit einer offenen Linie, beim asymmetrischen zurückschlagen mit zwei halboffenen Linien. Wird der Bauer mit einer Figur zurückgeschlagen verändert sich die Bauernstruktur wiederum auf eine andere Art. Schließlich ist der Fall zu nennen indem die andere Partei einen anderen Bauern im Gegenzug schlägt...

III. Spezielle Bauern:

Der Doppelbauer hat den Nachteil, dass er anfällig für Angriffe werden kann. Außerdem blockiert der weiter vorne stehende Doppelbauer seinen Hintermann. Doch Doppelbauern haben nicht nur Nachteile, die entstehende halboffene Angriffslinie kann von Türmen besetzt werden. Mitunter werden auch wichtige Schlüsselfelder unter die Kontrolle der eigenen Bauern gebracht.

Ein isolierter Bauer ist ein Bauer der keine eigenen Nachbarbauern mehr hat. Er kann somit nicht von eigenen Bauern gedeckt werden, weshalb er zum Angriffsobjekt werden kann.

Ein rückständiger Bauer ist ein Bauer, dessen eigene Nachbarbauern bereits mindestens ein Feld weiter vorgerückt sind. Bei einem rückständigen Bauern geht es für beide Parteien darum das Feld vor dem rückständigen Bauern zu kontrollieren. Besonders schwach ist ein rückständiger Bauer, wenn er auf einer halboffenen Linie steht.

Ein Freibauer ist ein Bauer der weder einen gegnerischen Counterpart auf der gleichen Linie, noch einen gegnerischen Nachbarbauern hat. D.h. der Weg zum Umwandlungsfeld ist frei und kann nur durch gegnerische Figuren blockiert werden, die dabei ggf. von wichtigen anderen Aufgaben abgelenkt werden können.

Der gedeckte Freibauer hat den zusätzlichen Vorzug, dass ihn ein eigener Nachbarbauer deckt. Gedeckte Freibauern sind von einer geeigneten Blockadefigur zu stoppen. Am besten erfüllt in der Regel der Springer diese Funktion, da er neben der Blockade weiterhin aktiv am Spielgeschehen teilnimmt und dabei den deckenden Bauern ins Visier nimmt. Für die Partei mit dem gedeckten Freibauern ist es wichtig Spiel auf einem weiteren Areal zu finden. Ein gedeckter Zentralbauer zusammen mit der Möglichkeit eines Flügelangriffs ist zum Beispiel ein entscheidender Vorteil.

Bauerninseln sind eigene Bauerngruppen, die nicht über Nachbarbauern miteinander verbunden sind.

Natürlich sind auch Kombinationen möglich: So kann ein isolierter Bauer (kein eigener Nachbarbauer) zugleich ein Freibauer sein (kein gegnerischen Störenfriede). Das Gewicht der Stärken und Schwächen hängen von der jeweiligen Stellung ab. Genau dieses Wissen und Verständnis ist es, was ein Schachspieler entwickeln muss, um an Spielstärke zu gewinnen!

IV. Planfindung:

In der Eröffnung kommen den Zentralbauern beim Besetzen und Kontrolle des Zentrums eine besondere Rolle zu.

Decken sich eigene Bauern gegenseitig und sind dabei durch gegnerische Bauern blockiert spricht man von einer Bauernkette. In der Regel sollte man die gegnerische Bauernkette durch einen Hebel attackieren, indem man den Bauern vorzieht, der in Richtung der eigenen Bauernkette zeigt (J. Silman). Hat man einen derartigen Bauern nicht, so hat man in der Regel zuvor etwas falsch gemacht.

Es gibt verschiedene Ziele die mit dem Vorrücken der Bauern verbunden sind: Raumgewinn, das Vorrücken auf das Umwandlungsfeld, die Öffnung einer Linie, das Aufhebeln der gegnerischen Stellung, die Zerstörung der Verteidigungsmauer des gegnerischen Königs, das Verdrängen einer Figur von einer Schlüsselposition, das Öffnen oder Verschließen von Diagonalen oder Reihen, das Bilden von gegnerischen Schwachpunkten...

Mit Bauern können Sie Durchbrüche erzielen oder die gegnerische Bauernposition sprengen. Wenn Sie mit einem Bauern auf ein Feld vordringen auf dem er zwei Figuren angreift, kann mindestens einer getauscht werden. Unabhängig ob es sich dabei um zwei gegnerische Bauern handelt oder einen Bauern und eine Figur.

Bauernstrukturen können auch auf andere Art zerschlagen werden. Neben dem Aufhebeln ist ein weiteres Mittel dazu das Figurenopfer! Auf dieses Motiv muss selbst oder gerade bei besonders massiven Bauernstrukturen geachtet werden. Bei der Zerstörung von Bedeutung sind, wieviele Bauern der opfernde Spieler dafür erhält, ob dabei die gegnerische Königsstellung beschädigt wird und wie die Figuren nach dem Schlag allgemein ins Spiel kommen. Das Opfer wird vorbereitet durch eine optimale Positionierung der Figuren durch Angriffe, Fesselungen und prophylaktischer Besetzung von sich öffnenden Linien und Diagonalen.

Mit einem Bauernopfer kann in bestimmten Stellungen Material für Zeit oder Qualität (gemeint ist das Figurenspiel) eingetauscht werden (siehe DWZ-Plus Roadmap).

Ist ein klarer Plan aus der Bauernstruktur nicht ableitbar, keine Panik! Gerade hier zeigt sich Schachverständnis! Viele Spieler haben in solchen Stellungen Probleme einen geeigneten Plan zu finden - auch ihr Gegner! Ideen sind die Verbesserung der Figurenstellung, die Einschränkung der generischen Figuren, Raumgewinn mit Bauernvorstößen sowie prophylaktische und überdeckende Züge (Ausblick: DWZ-Plus Weitblick).

V. Besonderheiten:

Die "en passant" Regel verhindert, dass ein Bauer aus der Grundstellung heraus einen gegnerischen Bauern auf der fünften Reihe blockieren kann. Da der Bauer aus der Grundstellung heraus zwei Felder vorziehen darf, könnte er an einem gegnerischen Nachbarbauer vorbeiziehen ohne eine Tauschmöglichkeit zuzulassen. Mit der en passant Regel wird dieser unlautere Vorteil für den verteidigenden Spieler verhindert! Die für den verteidigenden Spieler oft vorteilhafte Blockade wird also verhindert und die für den angreifenden Spieler meist vorteilhafte Linienöffnung bleibt durch das Schlagen en passant weiterhin möglich.

Der Bauer braucht fünf Züge bis zum Umwandlungsfeld.

VI. Spannung:

Stehen sich zwei Nachbarbauern so gegenüber, dass sie sich schlagen können ist Spannung in der Stellung. Beide Spieler müssen mit zwei Möglichkeiten rechnen wie die Stellung durch den Gegner verändert werden kann: Durchs Schlagen ist die Öffnung von Linien möglich, durchs Vorziehen eine Blockade der Stellung. In der Regel ist es vorteilhaft die Spannung zu halten! Auch wenn das Aufrechterhalten der Spannung psychologisch unangenehm für ihren Gemütszustand sein mag - gerade in der Zeitnotphase - bedenken Sie dass es ihrem Gegner ähnlich ergeht! Also spielen Sie souverän weiter die besten Züge und überlegen Sie sich zweimal bevor Sie zu einer Vereinfachung greifen, um sich besser zu fühlen. Ihre Stellung wird es Ihnen danken. Mehr dazu im DWZ-Plus zur Schachpsychologie.

VII. Abschließendes

Was hängt von den Bauern ab? Offene Linien, offene Diagonalen, starke und schwach Felder, Raumgewinn und vieles mehr.. All diese Dinge verändern sich mit jedem Bauernzug und müssen deshalb ins Kalkül gezogen werden!

Tipp 1: Bedenken Sie jeden Bauernzug zweimal, besser dreimal! Spielen Sie einen Bauernzug nur dann, wenn Sie zum Entschluss kommen, dass die Vorteile, die Nachteile langfristig überwiegen oder kurzfristig ein entscheidender Vorteil zu erzielen ist! Gerade Großmeister sind wahre Könner auch nur minimalste Ungenauigkeiten beim Bauernspiel für sich auszunutzen.

Tipp 2: Nehmen Sie gedanklich alle Figuren vom Brett bis auf die Bauern. Stellen Sie danach alle Figuren auf ihr Idealfeld (siehe DWZ Plus: Wirkung der Figuren). Damit haben Sie einen Ansatzpunkt wie Sie ihre Figurenstellung verbessern können.

Das Spiel von Schachspielern über einem Level von DWZ 2000 orientiert sich sehr stark an der Bauernstruktur. Der Kampf dreht sich um Angriffe auf Bauern, das Ausüben von Druck auf Bauern, das Binden von Figuren an geschwächte Bauern, die Einschränkung gegnerischer Figuren durch ihre Bauern, sowie Gegenmittel gegen Bauernangriffe wie die Überdeckung der eigenen Schwächlinge durch eigene Figuren. Die Schachprofis beherrschen die dabei geltenden Regeln und Zusammenhänge mit Perfektion. Wenn Sie sich die Sachverhalte dieser Lektion einprägen und in ihrer Turnierpraxis einsetzen sind Sprünge von bis zu 200 DWZ durchaus möglich!

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