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Frischer Wind in Laskers Stube

von Harald Fietz, April 2001

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   Rechtzeitig zur Emanuel-Lasker-Konferenz am 12. bis 14. Januar 2001 in Potsdam erschien im Berliner Philo Verlag ein Sammelband über das Leben des ersten deutschen Schachweltmeisters. Während auf die facettenreichen Vorträge der dreitägigen Veranstaltung in einer späteren Ausgabe eingegangen wird, sollen hier acht Beiträge beleuchtet werden, die in vielen Bereichen völlig neues Licht auf das Leben und Wirken eines wahren Kosmopoliten werfen. In einer Allianz von aktiven Schachspielern - vor allem aus den Reihen des derzeitigen Bundesliga-Tabellenführers Lübecker Schachverein von 1873 - haben sich Wissenschaftler verschiedener Universitäten dem Unterfangen gestellt, Laskers Ambitionen in den Sparten Schach, Mathematik, Philosophie und Literatur genauer zu erforschen. Entstanden ist ein Buch, das der komplexen Persönlichkeit in analytischer Reflexion und kommentierender Dokumentation gerecht zu werden versucht:

 

Michael Dreyer / Ulrich Sieg: Emanuel Lasker

Philo Verlag 2001
289 Seiten, 48 DM
ISBN: 3-8257-0216-2

 

   Der Untertitel verrät es, Lasker war ein Mensch, dessen Horizont über das 64. Feld hinausging. Und wie bei vielen Multitalenten ist auch Laskers Denken häufig durch den Gebrauch von Analogien zwischen den Disziplinen geprägt. Keine leichte Aufgabe, hier ein kohärentes Porträt zu zeichnen, denn anhand eines halben Jahrhunderts Produktion auf unterschiedlichen Gebieten im Kontext gegensätzlicher Gesellschaftssysteme lässt sich selbst auf knapp 300 Seiten zunächst nur eine erste Auswertung der Quellen - quasi als erstes Aufräumen im gewaltigen "Steinbruch" des Lasker-Massivs bewältigen. Viele kleine Mosaiksteine wurden zusammengetragen und neu bewertet. Hier sollen nur einige der zentralen Aussagen skizziert werden, die besonders aus der Sicht des Schachpraktikers von Interesse sind.

   In ihre biographischen Einführung zeichnen die Herausgeber das Bild eines intellektuellen Wanderers zwischen den Welten, was sowohl das Erkenntnisinteresse Laskers als auch sein ständiges Reisen als Notwendigkeit des Broterwerbs betrifft. Heutzutage kaum mehr vorstellbar, tummelte sich der Meister nicht nur in verschiedenen Disziplinen, sondern widmete sich einer breiten Palette von Spielen (Bridge und andere Kartenspiele, Go und dem von ihm erfundenen Lasca).

   Speziell das Schachdenken charakterisiert Ullrich Krause, in dem er Laskers Stärken und Schwächen in allen Spielphasen abhandelt und - im Vergleich mit der Theorie von Wilhelm Steinitz - die Schachprinzipien und Lehrsätze des zweiten Schachweltmeisters definiert. Besonders hilfreich, dass hier - wie im gesamten Band - Thesen mit teilweise wenig zugänglichen oder unveröffentlichten Aussagen und Schriften Laskers belegt werden. Auch der Stellenwert des "Kampfs" in dessen schachlicher Denkweise wird in einem gesonderten Abschnitt dargestellt. Dieser zieht sich wie ein roter Faden durch Laskers gesamtes Schachwerk, denn die Auseinandersetzung unter Wettkampfbedingungen ist das, was ihn fasziniert - schließlich könne seiner Ansicht nach jeder mit ausreichend Bedenkzeit eine passable Lösung einer Schachstellung finden. Herrschen allerdings klare Regeln der unmittelbaren Entscheidungsfindung, setzt sich beim Schach wie im Leben die größere Kampfkraft durch: "Nicht ein langsam arbeitendes, wenn auch vollkommenes Gehirn ist es, was die Menschheit anstrebt, sondern ein rasches, tatkräftiges, unternehmendes, und das trotz alledem sich nur selten irrt", schrieb er nach dem knappen Match gegen Carl Schlechter 1910.

   Der Kampfbegriff steht auch in den Aufsätzen von Oliver Lembcke, Ulrich Sieg und Michael Dreyer im Mittelpunkt. Während Ersterer ihn mit Hilfe spieltheoretischer Überelgungen als Kategorie von Laskers Spielauffassungen thematisiert (Schach als ökonomischer Einsatz der Kräfte), spürt Sieg den philosophischen Wurzeln der Elemente dieser Herangehensweise nach (Schach und seine kompetitive Ausrichtung). Dreyer schließlich untersucht die politischen Schriften Laskers im Spannungsfeld zwischen Pragmatismus und Prinzip (Schach und Politik als Resultat des strategischen Einsatzes der Macht). Da alle Autoren erfahrene Schachspieler sind, verstehen sie es geschickt, bei ihren unterschiedlichen Blickwinkeln die Übertragung der Schach-Logik auf andere Gebiete zu analysieren. Schach stellte für Lasker ein geordnetes System dar, welches wünschenswerterweise mit seinen vernunftorientierten Idealen auf andere gesellschaftliche Bereiche übertragbar sein sollte.

   Zwei weitere Interessenfelder erkunden Tim Hagemann und Markus Lang. Lasker probierte sich als Dramatiker im Umfeld seines Bruders Bertold, seiner kurzzeitigen Schwägerin Else Lasker-Schüler und seiner Frau Martha, die mit heiterer Belletristik schon frühzeitig erfolgreicher war als das Brüderpaar 1925 mit seinem geschichtsphilosophischen Theaterstück, welches leidlich wohlwollende Kritiken erhielt und unaufgeführt blieb. Bleibenderer Erfolg ward dem Schachgenie in seiner Lieblingsdisziplin, der Mathematik, beschieden. Dazu kann Lang dem Leser zwar nicht den Ausflug in einige Grundbegriffe der Algebra ersparen, aber die akademische Karriere rund um den noch heute bedeutsamen Zerlegungssatz von Lasker verdeutlichen, wie sehr er gerade in diesem Metier nach Reputation trachtete und auch erreichte, auch wenn es nicht zur Laufbahn als Universitätsprofessor kam.

   Allen Aufsätzen ist gemein, dass sie Laskers jeweilige Originalität als unabhängiger Querdenker orten, die ihn als universell gebildeten Weltbürger - ausgestattet mit Optimismus und Fortschrittsglauben - immer wieder befähigte, Probleme entsprechend den veränderten Gegebenheiten zu untersuchen und aus den Rückschlüssen praktikable Maßnahmen abzuleiten. Und genau hierzu erfährt der Leser eine Menge neuer Erkenntnisse. Selbst Otto Normalverbraucher unter den Schachspielern wird danach nicht mehr der Mär von Lasker als Protagonisten des "psychologischen Schachs" anhängen. Der Band ist nicht nur für eingefleischte Schachhistoriker ein Muss, sondern sollte auch dem passionierten Amateur und Übungsleitern überraschende Einblicke in Schachmethodik und Zeitgeschichte bieten. Ergänzt werden die Aufsätze durch eine Vielzahl kommentierter Originalartikel, -interviews, -briefe und -dokumente von und zu Lasker sowie Abbildungen, Faksimile und einem tabellarischen Lebenslauf mit zeitlicher Gegenüberstellung der Schacherfolge und des sonstigen Schaffens. Besondere Erwähnung verdient darüber hinaus, dass die komplexen Zusammenhänge in einer klaren, verständlichen Sprache verfasst wurden, was in einer Zeit der banalen TV-Sprachverkürzungen einerseits oder des Expertenchinesisch andererseits keineswegs eine Selbstverständlichkeit ist. Wer jetzt den Einstieg schafft, wird sich dann bereits auf die für Herbst angekündigte Dokumentation der Lasker-Konferenz freuen.

   Für die Unersättlichen besteht die Möglichkeit, der Lasker'schen Logik in ihrer knorrigen Ursprünglichkeit auf die Spur zu gehen. In einer kleinen Auflage von 500 Exemplaren ist soeben die oft zitierte Schrift "Kampf" im Verlag für Berlin und Brandenburg, Potsdam (79 S., 20 DM, ISBN 3-935035-08-X) erschienen, herausgegeben vom Initiator der Lasker-Konferenz, Paul Werner Wagner, mit einem Nachwort von Lothar Schmid. Diese frühe Schrift zieht in erster Linie Vergleich zwischen Kriegs- und Spielführung: Strategie, Prinzip der Arbeit, Prinzip der Sparsamkeit, Gleichgewicht und Übergewicht, das Prinzip der Logik und der Gerechtigkeit sind Begriffe, die beiden Sphären gemein sind. Während eine Reihe weiterer Vergleich zu sportlichen Wettspielen leicht verständlich sind, erschließt sich das System des Machee (griechisch für Kampf) nur, falls man die Erläuterungen des Sammelbandes heranzieht. Dennoch lassen sich eine Reihe von einfachen Lehrsätze auffinden, die jedem Schachspieler ein kurzes "Aha" entlocken werden.

   Beide Publikationen sorgen jedenfalls dafür, dass genau sechs Jahrzehnte nach dem Ableben des Schachtitanen, am 11. Januar 1941, eine frische Brise wissenschaftlich fundierter Analyse hartnäckige Vorurteile entstaubte. Diese "Thermik" verspricht noch stärker zu werden.


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