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Frauenquote sensationell gesteigert

Die Rüdersdorf-Girls komplettieren das Rezensionsteam der Kuppenheim-Homepage

von Harald Fietz, Dezember 2003

zu den Rezensionen in der Test


   Es musste was geschehen. Ausschließlich Männer besprechen neue Schachbücher und digitale Produkte auf der Homepage der Rochade Kuppenheim. Ist der Frauen- und Mädchenanteil im deutschen Schach schon in einem erschreckend niedrigen einstelligen Bereich, so musste gehandelt werden (selbst eine intellektuell so vielseitige Sportart wie Boxen hat einen höheren Prozentsatz an weiblichen Mitgliedern!). Dank unseres letzten Neuzugangs unter den acht männlichen Buchkritikern, dem Berliner A-Trainer Holger Borchers, konnte das komplette U-20w-Team des SV "Glück auf" Rüdersdorf für die Mitarbeit begeistert werden! Die Frauenquote schnellt auf unglaubliche 38% hoch! So eine erfreuliche Entwicklung verlangt nach Hintergründen. Deshalb werden die jungen Damen mit ihrem Umfeld und ihrem Interesse an den 64 Feldern vorgestellt.

 

Kleiner Ort im Schach ganz groß

   Rüdersdorf ist eine Gemeinde mit 10.643 Einwohnern im Land Brandenburg am östlichen Stadtrand von Berlin (von der geographischen Lage bildet es ein Dreieck mit den Endstationen der beiden Berliner S-Bahnlinien, die in Dahlwitz-Hoppegarten, wo die berühmte Pferderennbahn steht, und Erkner enden). Die Schachabteilung zählt mit 140 Mitgliedern zu einem der größten Schachvereine in Deutschland (http://schach.sv-glueck-auf-ruedersdorf.de) und erhielt 2001 das Grüne Band für vorbildliche Talentförderung der Dresdner Bank. An diesem Erfolg hat der Abteilungsleiter Jörg Zähler maßgeblichen Anteil, der seit 1982 als Sektions- und Übungsleiter im Verein Verantwortung trägt und von den Mädchen inoffiziell kurz "Chef" oder "Chefchen" genannt wird. Von Anfang an war der heute 46-Jährige 1993 bei der Bildung der Landesstützpunkte im Flächenstaat rund um die Bundeshauptstadt dabei. Seit 1995 ist Rüdersdorf als Landesleistungsstützpunkt durch den Landessportbund Brandenburg und das Ministerium für Bildung, Jugend und Sport anerkannt. Dies ermöglicht, eine Reihe qualifizierter Trainer, u.a. den FIDE-Meister Jörg Pachow, den früheren DDR-Nationaltrainer Dr. Ernst Bönsch oder den Fernschach-Crack Holger Borchers, zu verpflichten und die umfangreiche Jugendarbeit professioneller zu intensivieren. Anfang 2000 erstellte Zähler in seiner Funktion als Leiter des Landesstützpunkts und Referent für Leistungssport beim Landesschachbund Brandenburg - zusammen mit Bönsch - ein Leistungskonzept. Die Aufgaben für den Tausendsassa gestalten sich entsprechend umfangreich: planen, koordinieren, beantragen, nachfragen, abstimmen in einem fort. "Er tut eine Menge für uns und den Verein. Wenn wir ihn nicht hätten, würde so gut wie gar nichts klappen", meinte eine der Heranwachsenden, "Wir wüssten echt nicht, was wir ohne ihn machen würden", ergänzt ihre Freundin. Rustikaler formuliert es ihre Kollegin: "Er reißt sich sprichwörtlich den Hintern dafür auf, den ein oder anderen Vorteil für uns zu bekommen und ist immer nur mit Medaillen zufrieden." Und darin haben ihn die aktuellen Teammitglieder der U-20 weiblich häufig nicht enttäuscht.

 

Passion Schach

"Passion Schach": Schon seit der Grundschule halten sie dem königlichen Spiel die Treue - (stehend von links) Thea-Lina Müller, Judith Hönecke, Veronika Kind und (sitzend von links) Nadine Busse und Jennifer Sdunzik. Foto: Harald Fietz

 

Die Rüdersdorfer U-20w-Truppe

   Da sind Veronika Kind, mit 20 Jahren die Älteste und Spielstärkste (DWZ 1797 / ELO 2016), die Drei aus dem Jahrgang 1986, Thea-Lina Müller (DWZ 1737), Judith Hönecke (DWZ 1695) und Jennifer Sdunzik (DWZ 1693), und die Jüngste, die 1987 geborene Nadine Busse (DWZ 1642). Alle lernten jung die Grundkenntnisse des königlichen Spiels zwischen dem siebten und neunten Lebensjahr. Schnell packte sie der Eifer und nach wenigen Monaten war der Schachclub nicht mehr aus ihrem Lebensrhythmus wegzudenken. Veronika blickt vor ihrem letzten Jugendturnier, der Deutschen Vereinsmeisterschaft U-20w Ende 2003 in Ditzingen, gelassen auf die Zeit des Erwachsenwerdens zurück: "In diesen elf Jahren schaffte ich es, mehrere Male "Brandenburger Meisterin" zu werden und somit zur deutschen Meisterschaft zu fahren. Die deutschen Meisterschaften waren für mich immer Highlights, obwohl ich leider schachlich dort nie richtig aufblühte." Natürlich haben sich ihre Prioritäten jetzt verschoben. Nach dem Abitur im Sommer 2003 folgte noch im August das Dresdner ZMD-Open, wo sie sich en passant eine Elo-Zahl erspielte, und dann studienbedingt der Umzug nach Gießen. Ihrem Verein bleibt sie allerdings als Spitzenbrett in der 2. Frauenbundesliga treu. Dem Herrenteam muss sie notgedrungen öfter absagen: "Das Studium fordert nun einmal seine Opfer. Ich studiere im ersten Semester Ökotrophologie (Haushalts- und Ernährungswissenschaften). Im Moment habe ich riesigen Spaß daran. Ich hoffe, die anfängliche Euphorie wird noch lange halten. Zwischendurch versuche ich, mein schachliches Können ein wenig zu verbessern." Ob sie Buchbesprechungen in den Semesterferien regelmäßig bewältigen kann, lässt die frühere Schülerin des Carl-Bechstein-Gymnasiums in Erkner momentan noch offen, probiert werden soll es aber.

   Die 16- und 17-Jährigen wollen dafür regelmäßig etwas Freizeit abzweigen. Als Elft- und Zwölftklässlerinnen bleibt ihnen momentan - neben dem Schulalltag - etwas an Stunden übrig, da ihre Aufgabe als Betreuerinnen von Schul- und Kindergartengruppen in Erkner, Herzfelde und Rüdersdorf derzeit aus terminlichen Gründen auf Eis liegt. Judith erinnert sich: "In Erkner läuft die Schachgruppe von Thea-Lina und mir im Moment nicht, da bei uns die Zeit fehlt und wir keinen günstigen Tag haben, an dem wir es zusammen machen können. Wir haben dort den Kindern anfangs im Kindergarten die Figuren erklärt, das Schachbrett und angefangen mit der Italienischen Eröffnung, zumindest dann in der Schule. Hier haben wir ihnen auch Gabel und Fesselung beigebracht. Also grundlegende Dinge mit ein paar Taktikaufgaben." Jennifer konnte wegen eines längeren Amerikaaufenthaltes ihre Aktivität an der Grundschule in ihrem Wohnort Herzfelde nicht fortsetzen, und Nadine denkt als 16-Jährige ebenso gerne an ihre Tutorien an der Grundschule in Rüdersdorf zurück! "Es hat mir ganz gut gefallen, da ich auch sehr gerne mit Kindern umgehe und vielleicht später beruflich etwas in dieser Hinsicht machen möchte. Na ja, ich habe natürlich versucht, den Kleinen auf einfache und verständliche Weise die Spielregeln zu erklären. Wichtig ist vor allem, dass sie Spaß daran haben."

 

Training und Erfolg - aber bitte mit Spaß

   Aber die Vorbildfunktion hindert die Brandenburger D-Kader-Spielerinnen natürlich nicht, selbst im Jugendbereich auf Erfolgsjagd zu gehen. Einzelqualifikationen auf Landesebene sind ungezählt, bei den deutschen Einzelmeisterschaften waren alle bereits - bis auf Thea-Lina, die jüngst aber den größten Leistungssprung machte. Im Schulschach dominierten Veronika, Judith und Thea-Lina mit einer weiteren Rüdersdorferin für das Erkner Carl-Bechstein-Gymnasium in verschiedenen Schülerinnenkategorien national bereits viermal in Folge im neuen Jahrtausend! Mannschaftsmeisterschaften sind aus aller Sicht die wichtigsten Turniere, vor allem die jährlich kurz nach Weihnachten ausgetragenen deutschen Vereinsmeisterschaften in verschiedenen Kategorien. Hier erzielten Judith, Jennifer, Thea-Lina und Nadine Ende 2000 mit dem Sieg in der U-14 weiblich ihren größten Erfolg - und das schweißt bis heute zusammen. Nicht nur, weil das Siegen schön ist, sondern weil das Üben - gemeinsam und allein - spannende Stunden beschert. "Freude am Schach bringen mir definitiv meine Leutchens, aber auch sich richtig schön mit gewissen Varianten auseinander zu setzen ergibt einen gewissen Reiz ... manchmal ... und sich aus einer schlechten Stellung durch Tricks wieder zu bekobern", fasst Jennifer zusammen. Die anderen ergänzen, dass es der Gruppenzusammenhalt ist, das Reisen, die Begegnungen mit neuen Leuten - eben das ganze Drumherum. Ende 2002 kam mit der Vizemeisterschaft bei der deutschen Vereinsmeisterschaft U 20 weiblich ein weiterer Höhepunkt dazu (Veronika und Thea-Lina gehörten von den Buchgutachterinnen zum Team).

 

Trainingstag Schach

Frohgelaunt nach dem Trainingstag: (von links sitzend) Thea-Lina Müller, Nadine Busse, Judith Hönecke und Janine Platzek, Gastspielerin von USV Potsdam, unter dem wohlwollenden Blick ihres Trainers Holger Borchers. Foto: Harald Fietz

 

   Als Übungsleiter zeichnet der bekannte Bundesligaschiedsrichter Holger Borchers verantwortlich; zuvor vermittelte einige Jahre Ernst Bönsch sein Wissen. Holger Borchers bringt als Fernschach-IM und Trainer mit A-Lizenz eine ungeheuere Erfahrung mit. Seit nunmehr 30 Jahren betreut der 49-Jährige Jugendliche und errang schon zu DDR-Zeiten zahllose Titel mit seinen Schützlingen. Mit den Rüdersdorf-Girls arbeitet er seit Mitte 1999 und ist auch sonst als Trainer und Trainerausbilder gefragt: Als verantwortlicher Trainer der Deutschen Botwinnik-Schule für Mädchen (die sechs besten DSB-Spielerinnen bis zum Alter von 15 Jahren zu zwei Trainingswochen im Jahr) oder individueller Trainer (z. B. der Berliner Talente Atila Figura und Ilja Brener) ebenso wie für Schachgruppen auf Clubspielerniveau in Berlin und Umland. Seinen größten Erfolg hatte der gebürtige Berliner anno 2001 mit dem Coaching von Leonid Kritz (nunmehr bereits Großmeister) anlässlich dessen U-16-Titelgewinn bei der Jugendweltmeisterschaft. Die jungen Damen sind jedenfalls voll des Lobes über ihren "viehisch" guten Schachlehrer, dessen Urteile über Schachbücher für alle Spielstärken von Anfänger bis Fortgeschrittene künftig ebenfalls auf der www.rochadekuppenheim.de zu lesen sein werden. "Seine Trainingsmethoden sind abwechslungsreich und machen das Training dadurch schön", bekommt man zu hören. Oder charmant-ironisch: "Herr Borchers hat ein Gedächtnis wie ein Elefant, ein Riesenschachwissen und lebt voll und ganz für Schach!" Dies ist alles unabdingbar, schließlich sollen auf den monatlichen Wochenendseminaren von Freitag- bis Samstagnachmittag (Trainingslager dauern gar bis Sonntagnachmittag) immer knifflige Aufgaben gelöst werden, die das Schachwissen erweitern. Aber diese gemeinsamen Unterrichtsstunden dürfen nicht nur den Erkenntnisgewinn der Einzelnen fördern, sondern auch ein Gemeinschaftsgefühl bewirken. "Gerade bei Mädchengruppen ist dies ein wichtiger Faktor", weiß Borchers.

 

Generation Z

   Es wird klar, dass die jungen Damen sich noch (und hoffentlich für lange) einer anderen Generation zugehörig fühlen als der Generation X, die in den 90ern als weinerliche, egozentrische, gelangweilte Zwanzigjährige vor allem in Amerika verschrieen wurde. Ihre Lebenswelt kann - vor allem im Schach - auf die Formel "Generation Z" gebracht werden. Z wie Zusammenhalt. Nicht von ungefähr haben Mannschaftskämpfe einen besonderen Stellenwert (und im Herrenbereich spielen alle bei Rüdersdorf in der zweiten und dritten Aufstellung in der Regionalliga, der sechsthöchsten Klasse). "Zusammenhalt ist wichtig für unsere Mannschaft. Durch unseren Zusammenhalt unterscheiden wir uns von anderen Mannschaften und haben dadurch schon oft Kämpfe gewonnen", betont Judith. Und die Einzelturniere mit Gruppenatmosphäre durch möglichst viele Rüdersdorfer Teilnehmer gehört ebenfalls dazu: "Die bringen Spaß! Außerdem lernt man zusammen neue Städte und Leute kennen. Durch gemeinsame Turniere wächst unser Zusammenhalt." Das tschechische Pardubice und Greifswald sind beispielsweise im August regelmäßig Pflicht - und sei es, dass man in der Schule zwei, drei Tage frei nehmen muss! Doch der Schachclub ist mehr als ein ständiges Girls Camp mit Spaß und Zoff, wie es Jennifer flapsig auf den Punkt bringt: "Gemeinsame Turniere sind einfach das Geilste, vor allem nicht nur Mädchen oder Jungs, sondern alle zusammen." Die Konkurrenz mit dem anderen Geschlecht fürchten sie ohnehin nicht. "Gegen sie ist es eigentlich wie jedes andere Spiel, Jungs und Männer spielen allerdings härter", klagt Judith nur ein bisschen. "Das einzige was nervt, dass Jungs manchmal denken, sie seinen eh' besser und wir keine Konkurrenz 'at all' sind. Gerade deswegen macht es immer wieder Spaß, sie vom Gegenteil zu überzeugen!", ergänzt Amerika-Fan Jennifer, die 2002/03 für ein Jahr zu einem Schulaustausch in den Staaten auf der High School in Forney in der Nähe von Dallas/Texas weilte. Daher wird ihr Augenmerk mit Enthusiasmus vor allem englischsprachiger Schachliteratur gehören. Thea-Lina kehrte Mitte Oktober 2003 von einem zehnwöchigen Sprachaufenthalt aus Frankreich zurück; sie verpasste daher den ersten Rezensionsdurchlauf. Aber keine Sorge, sie schmökert bevorzugt in deutschsprachigen Schachbüchern!

 

Lesen, lesen, lesen

   Überhaupt zählen sich unsere Neu-Rezensentinnen zu den Viellesern - von schwülstigen Romanzenromanen, blutrünstigen Krimis bis zu klassischen und psychologisch angehauchten Werken (mehr dazu in den individuellen Steckbriefen). Was das Schach betrifft, wollen sie sich sowohl bei Büchern und CDs auf die verstärkte Flut von Ratgebern für ihre Spielstärken zwischen 1600 und 2000 konzentrieren. Rezensionen haben einen mannigfachen Nutzen: Man kann sich ein Buch für den eigenen Bedarf ausgucken und arbeitet es entsprechend interessiert und intensiv durch. Ein Abgabetermin verpflichtet zu kontinuierlichem Arbeiten und das Schreiben der Bewertung schult zudem den Blick für das Wesentliche. Wenn sich dieser Elan absehbar in sichtbaren DWZ-Punkten widerspiegeln würde, wäre das Optimum erreicht. Auf alle Fälle müssen sich die Besucher der Test-Rubrik auf der Kuppenheim-Homepage nach einem vorsichtigen Ausloten der Fähigkeiten bei den ersten Rezensionen künftig auf messerscharfe Urteile weiblicher Logik einstellen. Wie unerbittlich diese sein werden, sollte man nicht verpassen!

 

Nachtrag

   Die Rüdersdorfer U-20w-Truppe wurde Deutscher Vereinsmeister 2003! Mehr Einzelheiten dazu im Text von Harald Fietz.


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