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Mehr verlieren, um mehr zu gewinnen

Buchneuerscheinung zum klassischen Holländer als ideale Ergänzung zur CD

von Harald Fietz, März 2003

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Jan Pinski, Classical Dutch

Everyman Chess 2002, ca. 24 Euro
ISBN 1-85744-307-1
Sprache: Englisch

Bewertung des Rezensenten: Bewertung 4,0 aus 5


   Manchmal sagen es Zahlen genauer als Worte. Boris Schipkov betitelte seine jüngste ChessBase-CD einfach A90-A99, d.h. Holländisch von Stonewall bis zum Iljin-Genewski-Aufbau (zur Rezension von FM Wiechert). Der polnischer IM Jan Pinski wagte sich an ähnliches Terrain und nannte es den klassischen Holländer. Eine zu Irritationen führenden Bezeichnung, denn Schipkov bringt unter diesem Terminus vier Kapitel zum Stonewall, während Pinski nur den - vielleicht aus Marketinggründen nicht so genannten - Iljin-Genewski-Aufbau verstanden wissen will. Doch lichtet sich der Nebel babylonischer Sprachverwirrung, erkennt man eine feine Fleißarbeit des 24-Jährigen, der mit bisher im englischen Sprachraum nur als Co-Autor des dänischen IM Jacob Aagaard zur Kalashnikov-Variante auftrat (ebenfalls eine eigenwillige Stilblüte der Inselbewohner, die dort Sizilianisch mit 1.e4 c5 2.Sf3 Sc6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 e5 meint).

   Der Mann aus Warschau positioniert sich mit "Classical Dutch" für A96-A99 zwar auf der schwarzen Seite, doch seine Resümees bleiben stets ausgewogen. So verteilt sich auch das Partienmaterial auf 160 Seiten gleichgewichtig: Von 74 Referenzpartien gewinnt Weiß 27 mal bzw. Schwarz 31 mal und 16 mal gibt es ein Unentschieden. Nur 14 Partien sind aus dem Zeitraum 2000 bis 2002, was aber keine Kopfschmerzen bereitet. Die Varianten verstaubten bisher allesamt in den Notebooks der Spitzenspieler. Anfang der 90er Jahre versuchte sich einzig der damalige WM-Anwärter Nigel Short regelmäßig. Auch heute sind treue Anhänger auffällig selten: Bei den Herren der auf vielen Open präsente russische GM Igor Naumkin und bei den Damen die österreichische WGM Eva Moser. Früher - in den 50er Jahren, als viele Eröffnungssysteme unter dem Einfluss der sowjetischen Schachschule das Laufen lernten - fand man öfter klangvolle Namen: David Bronstein, Viktor Kortschnoi, Alexander Kotov, Bent Larsen u.a. waren Vorbilder. In Deutschland wagte in den 90er Jahren Eric Lobron einige Partien. Aber insgesamt gilt, die Titelträger greifen nur sporadisch dazu, während die Gewichtsklassen zwischen Elo 2000 bis 2400 eher Spezialisierung betreiben. Letzte ist für ambitionierte Amateure bestimmt keine schlechte Orientierung. Sie sind weitgehend frei von schachlichen Broterwerbszwängen und können sich leichter mit Pinskis Einstellung anfreunden. Freimütig bekennt er, dass der Schwarzspieler mit Risiken rechnen muss: "Warum? Weil er den König attackiert. Das ist das Wesen des klassischen Holländers, und ich wäre nicht ehrlich, wenn ich ihnen anderes erzählen würde. Weiß hat kleine positionelle Vorteile, aber die Spiele sind unterhaltsam und Schwarz erhält oft gute Möglichkeiten, auf den König loszugehen. Wenn Sie sich also entscheiden, klassisches Holländisch zu spielen, dann sollten Sie die Idee eines perfekten Spiels aufgeben. Statt dessen frönen Sie einem schrecklichen Kampf. Sie werden mehr Spiele als im abgelehnten Damengambit verlieren, aber ich verspreche Ihnen, Sie werden auch mehr gewinnen und dabei reichlich Spaß haben! Keine Eröffnung garantiert Schwarz in allen kritischen Varianten gleiche Chancen. Das ist die Natur des Spiels." (S. 93)

   Pinski versucht entsprechend, "seinen Schwarzspieler" zu ermutigen. Acht Kapitel durchmessen vernachlässigtes, aber leicht anzueignendes Terrain. Vieles ist eigene Analyse und Warnungen und Empfehlungen zum Betreten von Neuland kommen gleichermaßen vor. Nach dem thematischen Aufbau mit 1.d4 f5 2.c4 e6 3.g3 Sf6 4.Lg2 Le7 5.Sf3 0-0 6.0-0 d6 ist Bauernstruktur gesteckt und die Absichten des Figurenzusammenspiels müssen offen gelegt werden. Noch sind die Bewertungen selten eindeutig, aber sie verweisen auf die Perspektiven unerforschter Spielräume:

I) 7.Sc3 a5 8.b3 De8 (23 Seiten, Urteil: "ungeordnet" - der Weißspieler wird sicher künftig Verbesserungen finden);
II) 7.Sc3 a5 8.andere Züge (14 Seiten - Urteil: "mehr ist künftig zu erwarten" - Schwarzspieler schaue genau hin);
III) 7.Sc3 mit 7....De8 oder 7...Se4 (31 Seiten - Urteil: "riskant, aber nichts, was nicht behoben werden kann" - beide Seiten werden weitere Optionen ausloten);
IV) 7.b4 (17 Seiten - Urteil: "schwierig, aber der Ausgleich ist möglich" - Schwarz muss eben kreativ sein);
V) 9.Sbd2 (11 Seiten - Urteil: "Weiß beeindruckt nicht, d.h. Schwarz kommt bei richtigem Spiel zu Gegenchancen");

Und natürlich muss der Nachziehende auch ungewöhnliche Aufstellungen auf der Rechnung haben:

VI) 4.Dc2 oder 4.e3 (19 Seiten - Urteil: "vieles ist möglich" - Schwarz muss zudem auf ungewöhnliche Züge wie 4.f3!? vorbereitet sein);
VII) 4.Sh3 (8 Seiten - Urteil: "Weiß bekommt keinen Vorteil" - Schwarz muss den gewöhnlichen Aufzug mit g5 vermeiden und im Zentrum agieren);
VIII) Weiße Alternativen im zweiten Zug (20 Seiten - die Grundlagen für jeden Holländer aus schwarzer Sicht).

   Die Übersicht zeigt, dass Schwarz vor allen darauf bauen muss, besser diese selten gespielten Systeme vorzubereiten, d.h. weiter in die Mittelspielstrukturen einzudringen und mit zunehmender Praxis aus einem größeren Erfahrungsschatz zu schöpfen. Einige Partien der österreichischen Frauenbundesligaspielerin Moser vom SC Dresden veranschaulichen die Aufs und Abs. Die Analysen von Pinski (als Zitate gekennzeichnet) sind mit neuen Partien ergänzt.

 










B. Golubovic - E. Moser [A99]

 

1.d4 f5 2.g3 Sf6 3.Lg2 e6 4.Sf3 Le7 5.c4 d6 6.Sc3 0-0 7.0-0 De8 8.b3 a5 9.Lb2 Sa6 10.Te1 Dh5 11.e4 fxe4 12.Sxe4 Sxe4 13.Txe4 Pinskis Einschätzung fokussiert auf das Wesentliche: "In diesem Abspiel hat Weiß aufgrund des schwachen Bauern e6 einen kleinen, aber sehr klaren Vorteil. Diese Überlegenheit mag nicht überwältigend sein, aber sie existiert praktisch auf ewig, so dass es schwer vorzustellen ist, wie Schwarz diese Schwäche loswerden kann." 13...Lf6 Eine Standardstellung des Systems: [ 13...Ld7 14.Te3 c6 15.Dd2 b6?? ( Pinski empfiehlt 15...Sc7 ) 16.d5 e5 17.Sxe5 dxe5 18.Txe5 Df7 19.dxc6 Lb4 20.De3 Le6 21.Txe6 Lc5 22.Ld4 1-0 Kachiani-Gersinska - Moser, Istanbul (Olympiade) 2000.] 14.Dd2 [ 14.h4 Ld7 15.Sg5 Dxd1+ 16.Txd1 Lxg5 17.hxg5 Tad8 18.Lc3 Pinskis Urteil zur Begegnung Markos - Moser, Leipzig 2002 lautet: "Und vielleicht hat Weiß mehr als nur einen kleinen Vorteil."; Gegenspiel verschaffte sich Schwarz in 14.Te3 Sb4 15.Lc3 Kh8 16.a3 Sc6 17.d5 Lxc3 18.Txc3 exd5 19.cxd5 Se7 20.Sd4 Lg4 21.f3 Lc8 22.Txc7 Sxd5 23.Tcc1 Se3 24.Dd3 Sxg2 25.Kxg2 Lh3+ 26.Kg1 Tae8 mit späterem Remis in Almasi - Moser, Budapest 2002. Dabei handelte es sich aber um Istvan, den Bruder des Spitzenspielers vom Bundesligisten SC Kreuzberg. Die Partie ist nach Redaktionsschluss des Buches gespielt worden. Dort werden die Abspiele 14.De2 und 14.Te2 beurteilt.] 14...Ld7 15.Tae1 [ Ein anderer weißer Versuch nach Abschluss von Pinskis Arbeit ist: 15.Se5 dxe5 16.dxe5 Lg5 17.Dxd7 Sc5 18.Dd4 Sxe4 19.Dxe4 Tad8 20.h4 Le7 21.Ld4 b6 22.Lh3 Txd4 23.Dxd4 Lc5 24.Lxe6+ Kh8 25.Dg4 Dxe5 26.Td1 Txf2 27.Kh1 h5 28.Dg6 De2 29.Td8+ Lf8 30.Txf8+ Txf8 31.Lh3 Tf2 0-1 Rau - Moser, Augsburg 2002. Die Idee Se5 lohnt den Vergleich mit Zug 16 der Textpartie.] 15...Tae8 16.Se5?? [ Ein schrecklicher Fehler. Nach 16.T4e3! Lc6 17.a3 mit der Idee b3-b4 hat Weiß Vorteil.] 16...dxe5 17.dxe5 Le7 18.Dxd7 Sc5 19.Dxc7 Sxe4 20.Lxe4?? [ 20.Txe4 Td8! ( 20...Dd1+ 21.Lf1 führt zu nichts.) 21.Lc3 Td1+ 22.Te1 Txe1+ 23.Lxe1 De2 24.Dxa5 b6 25.Dd2 Txf2 ergibt eine starke Stellung für Schwarz. Nun hat er einen "großen Trick".] 20...Lb4?! [ Schwarz sollte 20...Txf2!! 21.Kxf2 Dxh2+ 22.Lg2 ( 22.Ke3 Lg5+ gewinnt.) 22...Tf8+ 23.Ke3 Dxg3+ und der weiße König kann nicht entkommen. Merken Sie sich diesen Standardtrick - er ist sehr nützlich.] 21.Tb1 [ Weiß kann nicht entkommen. Nach 21.Tf1 De2 22.a3 Le7 gewinnt Weiß einen der Läufer.] 21...Txf2! Es ist nie zu spät. 22.Kxf2 Dxh2+ 23.Ke3 Dd2+ Alle Weg führen nach Rom. 24.Kf3 Tf8+ 25.Kg4 De2+ 26.Kh3 Dxe4 27.Tg1 Df5+ 28.g4 Df3+ 29.Kh2 Ld2 0-1

 

   Wer Wechselbäder mag, wird angesichts solcher Beispiele leicht verstehen, warum das Buch als gute Ergänzung zur Schipkov-CD lohnt:

 

 

die Rezension erschien zuerst in Schachmagazin 64, Nr. 5/2003, S. 125-126
das Rezensionsexemplar stellte die Firma Niggemann (Industriestraße 10, 46359 Heiden) zur Verfügung


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