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Tragikomik für das Guinness-Buch?

Eine facettenreiche Bilanz Bremer Schachfreuden und -schicksale

von Harald Fietz, Fotos von Hartmut Metz, März 2002

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Claus Dieter Meyer, Till Schelz-Brandenburg: Die Jahrhundert-Meisterschaft im Schach

Schünemann-Verlag
326 Seiten; 24,80 EUR
ISBN 3-7961-1831-3

Bewertung des Rezensenten: Bewertung 5 aus 5

 

   Turnierbücher sind inzwischen eine seltene Spezies. Galt vor einem Jahrhundert noch die Faustregel, jedem bedeutenden Turnier seine üppig ausgestattete Dokumentation, so bleibt in der Gegenwart - zwischen der Hatz von Wettkampf zu Wettkampf - wenig Zeit dafür. Zudem orientiert sich der potenzielle Kunde vorrangig auf Spezielles, d.h. in neun von zehn Fällen Eröffnungsliteratur, die unter den reißerischsten Titeln auf den Markt drängt. Da ist das Wagnis, ein einzelnes Event für die Nachwelt festzuhalten, eine verlegerische Gradwanderung: Man sollte zeitnah erscheinen, gut analysiertes Material bieten und die Ereignisse übersichtlich präsentieren.

   Vor diesem Hintergrund ist das Ende 2001 veröffentlichte Buch fast ein Anachronismus. Zumal das Werk mit einem sperrigen Titel daher kommt: "Die Jahrhundert-Meisterschaft im Schach. Die Deutsche Einzelmeisterschaft 1998 in Bremen und zur Schachgeschichte der Hansestadt", herausgegeben von Claus Dieter Meyer und Till Schelz-Brandenburg, erschienen im Bremer Schünemann-Verlag (ISBN 3-7961-1831-3, 326 S., 24.80 EUR). Drei Jahre nach dem letzten Zug will das silberfarbene Hardcover auf Kunstdruckpapier also mehr als ein übliches Turnierbuch. Zwar steht das jüngste Highlight der Bremer Schachhistorie vorne an, doch galt es gleichzeitig, verschiedene Jubiläen zu würdigen: 100 Jahre SV Werder Bremen in 1999 und 50 Jahre Schachabteilung im grün-weißen Fußballclub in 1998. Solche runden Zahlen drängen nach Rückblick.

   Die Autoren standen vor der Herausforderung, eine Präsentation der bis dato besten deutschen Meisterschaft aller Zeiten und die lokale Schachentwicklung zwischen zwei Buchrücken zu bringen. Herausgekommen sind letztlich vier Schachbände in einem. Was auf den ersten Blick als Sammelsurium erscheinen mag, erweist sich bei genauerer Betrachtung als Sammlung schachlicher Aktivität unter einem gemeinsamen Nenner: die Hansestadt und ihr Umland als genius loci, an dem die schöpferische Kraft phantasiereicher Suche nach einer guten Partie in norddeutscher Nüchternheit gedeiht. Hier wirkte der Bankdirektor Carl Carls, der für "seinen" Zug 1.c4 Berühmtheit erlangte, aber hier kämpften auch Inhaftierte emsländischer Konzentrationslager in den dunklen Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft mit Hilfe des königlichen Spiels um psychische Stabilität beim physischen Überleben. Wie andernorts vollzog sich das reguläre Schachleben in Vereinszimmern und bei öffentlichen Anlässen, aber hier organisierte man auch ein nationales Championat, an dem alleine 23 Großmeister teilnahmen. Viel Stoff für unterschiedliche Autoren in vier Kapiteln:
 

1. Die beiden Herausgeber liefern auf 120 Seiten die komplette Chronologie der Meisterschaft mit 48 Teilnehmern in neun Runden Schweizer System;

2. Hanno Keller resümiert auf 100 Seiten die Bremer Schachgeschichte;

3. Robert Hübner widmet sich auf knapp 70 Seiten dem Werdegang von Carl Carls;

4. Edmund Bruns zeichnet auf knapp 20 Seiten ein Bild der Anspannungen menschenverachtender Gefangenschaft und der "Macht" des Schachspiels.

 

Die Meister am Geldtopf

   Wie lockt man die stärksten Titelträger und über Landesverbände qualifizierte Spieler zu einem Turnier? Ganz einfach, man regt die Sinne mit 100.000 DM an, wovon die ersten drei Plätze mit 30.000, 20.000 und 15.000 DM den Löwenanteil ausmachen. Dann findet sich ein, was Rang und Namen hat. Mit 500 DM für die schönste Partie der Runde kann zusätzliche Stimulanz für kompromisslose Auseinandersetzungen geschaffen werden. Wie aber 216 Partien an den Leser bringen? Wohl oder übel musste auf die simple Vorgehensweise des schmucklosen Chessbase-Prints zurückgegriffen werden. Damit sind pflichtgemäß alle Züge im Kasten und es bleibt Raum, mit knappen Tagesberichten das Geschehen einzuleiten, welches es lohnt, ein Brett aufzubauen.

   Genuss bringt der jeweilige Schönheitspreis; alle verfügbaren Sekundarquellen und zusätzliche Betrachtungen von C.D. Meyer wurden ausgeschöpft, um die Hartnäckigkeit des Ringens festzuhalten. Doch trotz aller glänzenden Gesamtkunstwerke, sind es die haarsträubenden Kapriolen, die Prickeln vermitteln. 31 Positionsdiagramme - darunter neun Endspielstellungen - offerieren die ganze Palette der Täuschungen und Enttäuschungen. Die Überschrift "Tragikomisch" durchzieht diese Revue - und sicher wäre ein Antrag auf Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde angebracht: Welches Schachbuch hat jemals eine vergleichbare Flut an "Verwirrungen" unter diese Überschrift gestellt? Aber es ist nicht eine platte Zurschaustellung der Fehlleistungen, sondern eine höchst instruktive Odyssee durch Momente der Fauxpas. Unzweifelhaft stellt dieser Teil den gehaltvollsten Teil von Kapitel eins dar: Stoff zur eigenen Erbauung oder dem Training in der Gruppe - die zahlreichen Analysediagramme unterstützen diesen Prozess. Insbesondere Endspielfans kommen voll auf ihre Kosten. Abgerundet wird dieser Part durch einen ausführlichen Tabellenteil - inklusive der Übersicht über alle seit 1879 jemals in Ost und West vergebenen Titel. Meister wurde letztlich mit 6,5 Punkten Jörg Hickl - von Endrundengegner und Titelverteidiger Peter Enders zum Siege genötigt - vor den punktgleichen Christopher Lutz und Christian Gabriel. Viele bekannte Spitzenspieler rangieren dahinter im dicht gedrängten Vorderfeld.

 

Jörg Hickl

Jörg Hickl – der glückliche Sieger der Deutschen Meisteschaft 1998

 

Schach in Bremen zwischen All- und Feiertag

   Im Buch folgt anschließend der Rückblick auf über 150 Jahre Schach. Zwar sind in einer solchen Chronik allerlei Ehrentabellen und Statistikdaten trockene Bestandteile einer Festschrift, doch diesmal wird der Leser mit unzähligen wissenswerten Details versorgt. Da ist die Erwähnung des SK Morphy, der sich 1881 der Bremer Schachgesellschaft anschloss, aber zuvor Ausdruck der Huldigung an den kometenhaft auf- und abgestiegenen Star war; da ist die spezielle Historie des Arbeiterschachs vor 1933 oder da sind die Würdigungen der verschiedenen, ihre Zeit prägenden Könner. Unter ihnen auch jener Jugendspieler, der es anschließend auf politischem Terrain weit brachte, und im Jahr der Gründung der Bundesrepublik den späteren DSB-Präsidenten besiegte.

 










Ditt,Egon - Koschnick,Hans [C07]
Bremen (Jugendmeisterschaft), 1949

 

1.e4 e6 2.d4 d5 3.Sd2 c5 4.exd5 Dxd5 5.Sgf3 cxd4 6.Lc4 Dd8 7.0-0 Sc6 8.Sb3 Sf6 9.Sfxd4 Sxd4 10.Sxd4 Le7 11.Lf4 a6 12.c3 0-0 13.Df3 Db6 14.b3 Ld7 15.Tfe1 Lc6 16.Dh3 Tfe8 17.Te2 Le4 18.Tae1 Lg6 19.Sxe6 Lc5 20.b4? Lxf2+ 21.Txf2 fxe6 22.Lxe6+ Kh8 23.De3 Dc6 24.Dh3 Se4 25.Ld7 Sxf2! 26.Kxf2 Db6+ 27.Le3 Df6+ 28.Kg1 Dxc3 29.Dg3 Te7 30.La4 b5 31.Lb3 Tae8 32.Kf2 Txe3 33.Txe3 Dd2+ 0-1

 

   Nicht nur der SPD-Politiker Koschnick ist ein Schachpraktiker, ebenso setzt sich der jetzige Bürgermeister Henning Scherf gerne ans Brett, wie ein Foto vom Simultan gegen Aivar Gipslis belegt. Jener war nicht der einzige Profi, der in der Hansestadt ein Gastspiel gab. Die ebenfalls bereits verstorbenen Michail Botwinnik, Salo Flohr, Jakow Estrin, Wladimir Bagirow und Michail Tal gehören ebenso dazu wie Anatoli Karpow, Emanuel Lasker, Alexander Aljechin und Samuel Reschewski sowie viele andere Ausnahmekönner. Faszinierende Fotos und Partien lassen erahnen, welchen Stellenwert für die Wahrnehmung des lokalen Schachsports solche Auftritte hatten.

   Überhaupt stellt sich in diesem Abschnitt das "kleben bleiben" am Bericht durch eine gelungene Mischung aus Text, Fotos, Nachdrucken von Zeitungsausschnitten und anderen Zeitdokumenten sowie überwiegend unbekannten Partien ein. Hanno Keller bewältigt seine Chronik bemerkenswert unprätentiös; der Leser schifft gebannt durch die Ereignisse, die Jahr für Jahr Wellen schlugen.

 

Der Mann mit dem goldnen Bauern

   Nach diesem Ausleuchten markanter Vorkommnisse folgt unter dem bescheidenen Titel "Der Bremer Schachmeister Carl Carls" ein Porträt entlang der Schachlaufbahn des bekanntesten Schachmeisters aus Bremen. Ein halbes Jahrhundert von Köln 1898 bis Bad Pyrmont 1949 bewältigte dieser bedeutende Wettkämpfe - darunter bekannte Turniere wie Ostende 1906, Mannheim 1914 oder Baden-Baden 1925. Sein Markenzeichen war 1.c4, und kein Eröffnungsbuch über die Englische Eröffnung kommt ohne einen Hinweis auf ihn aus. Nach dem für einen Amateur respektablen Ergebnis von 9/20 in Baden-Baden erhielt er von der Bremer Schachgesellschaft einen mit einem "C" gekrönten goldenen Bauern und 1951 verlieh ihm die FIDE den Titel Internationaler Meister.

   Später Lohn für einen Vielspieler, dessen "unermüdliche Spiellust" zu orten Robert Hübner sich vorgenommen hat. Wie immer beim deutschen Spitzenspieler geschieht das mit einer konsequenten Systematik: Ein Dutzend Seiten für die akribisch mit Quellen belegten Stationen, 50 Seiten für "Spielproben" anhand von zehn Partien und drei Seiten für eine Würdigung. Bei Letzterer wird auch schonungslos auf Stärken und Schwächen reflektiert - alles in gewohnt sarkastischem Ton. Nicht wenige Sätze ähneln dem folgenden: "Er scheint beim Schach mehr über ein körperliches Beharrungsvermögen als über geistige Zähigkeit verfügt zu haben. Allerdings blieb er aufmerksam bis zum Schluss der Partie." Doch verfällt der nun für Baden-Oos spielende Großmeister keineswegs in Niedermachen und bilanziert: "Um den Kern seiner Person konnte sich eine Schachtradition aufbauen und entfalten, auf deren Boden zahlreiche neue Talente heranwuchsen."

 

Dr. Robert Hübner

Dr. Robert Hübner – ein kritischer Würdiger der Schachhistorie

 

   Wäre allein diese Charakterstudie den Erwerb des Buches wert, so übertreffen die zehn Partien alles. Nicht weil hier glänzende Schachperlen vorgeführt werden, sondern weil Hübner eine treffliche Balance zwischen lehrreichen Kommentaren und Umfang an Analysen gelungen ist. Wo mancher sonst vor dem Variantendschungel der aktuellen Nummer drei der deutschen Rangliste resignieren mag, erschließt sich diesmal in verdaulicher Form der Gehalt der Züge. Ein freundlicher Rat an alle Schachlehrer und Jugendtrainer der Republik: Schaut auf diese Spiele!

 

Schach zum Überleben

   Beschlossen wird das Werk mit einem ernsten Thema. Dem königlichen Spiel als geistiger Rückhalt in lebensbedrohlichen Situationen widmet sich Edmund Bruns, der bereits seine Promotion zur Kulturgeschichte des Schach in der Neuzeit verfasste. Sein Text fokussiert auf Erfahrungen von Häftlingen zwischen 1933 und 1945. Unter besonderer Berücksichtigung von Konzentrationslagern im Emsland wird das System der Lagerhaft beschrieben und veranschaulicht, wie sich Tagesabläufe und Prozeduren auf die Psyche der Häftlinge auswirkten. Zitate von Zeitzeugen dokumentieren, welch essenzieller geistiger Anker das Spiel in Extremsituation wie nach Folter bedeutete: "In dieser Situation fing ich an, Schachpartien im Kopf zu analysieren. Für Stunden war alles andere ausgeschaltet, war alles Schwere vergessen, war die zermürbende Leere ausgefüllt", berichtet ein Gestapo-Opfer. Die beklemmende Realität vieler Einzelhelden, die Pate für Stefan Zweig und seine "Schachnovelle" hätten sein können, bleibt universell gültig: "Das tragende Symbol des Schachspiels war für viele Inhaftierte seine Phantasie, seine Kreativität, sein Geist und die Tatsache, dass es einen dem Alltag entfliehenden Charakter besitzt."

 

Für Denker und Nachdenkliche

   Jean Paul schrieb einmal: "Die Erinnerung ist das einzige Paradies aus dem wir nicht vertrieben werden können." In diesem Sinne braucht das Schachspiel als Vergnügen mit moralischem Wert die Erinnerung. Das Buch verschafft hierzu neue Einblicke in Karrieren und Lebenserfahrungen vieler, die im Bremer Schach aktiv waren und sind. Es bietet zudem reichlich tiefsinnig analysiertes Material und vernachlässigt insbesondere nicht die bittere Süße tragikomischer Wendepunkte. Welcher Schachspieler liebt solche Wechselbäder nicht?


Ranking: 5 Sterne

Zielgruppe: Dieser Sammelband spricht eine breite Klientel an; der schachhistorisch Interessierte findet hier viele neue Informationen, der Schachtrainer ideale Übungsaufgaben und der Schachpraktiker unbekannte oder gut zusammengetragene Analysen.

Besonderheiten: Wer Schach in seiner Vielfalt von Spitzenkampf bis Lokalbegegnung genießen will, der ist hier gut aufgehoben. Eines jener Bücher, die man immer wieder einmal zum Blättern aus dem Regal holt!


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