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Der Bauer - (k)eine unwichtige Figur?

Drazen Marovic: Geheimnisse der Bauernführung im Schach

Rezension von Nadine Busse, August 2004

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Drazen Marovic: Geheimnisse der Bauernführung im Schach

Gambit 2003
ISBN 1-901983-31-5
224 Seiten; ca 23 €

Bewertung des Rezensenten: Bewertung 4 aus 5

 

   Manche Schachspieler glauben, dass der Bauer eine nicht so wichtige Figur ist. Wer so etwas behauptet, hat noch nicht exakt die "Wechselwirkungen" rund um den Bauern und die Figuren betrachtet! Ist der Bauer bisweilen bedeutsamer als sein Ein-Punkte-Wert? Wir alle wissen, was Philidor postulierte: "Die Bauern sind die Seele des Schachspiels." In seinem Buch "Geheimnisse der Bauernführung im Schach" skizziert Drazen Marovic in seiner Einführung, mit dem französischen Bahnbrecher beginnend, den Bedeutungswandel des Bauern als Basis der Spielgestaltung in den vergangenen 250 Jahren. Auf dieser Reise in die Vergangenheit begegnen wir berühmten Persönlichkeiten (den Romantikern des 19. Jahrhunderts, Steinitz, Nimzowitsch, Reti, Bronstein, Boleslawski), die alle in ihrer Zeit neue Betrachtungsweisen zur Bauernführung aufstellten. Schon früher war man geteilter Meinung, was für einen Stellenwert der Bauer hat. Den einen war er beim Figurenspiel im Weg, den anderen bildetet er das Rückgrat der Angriffsführung oder Verteidigung. Eine entgültige Wahrheit gibt es auch heute noch nicht, aber viele verallgemeinerbare Schlussfolgerungen über Typen von Bauern und Bauernformationen.

   Den verschiedenen Funktionen widmet sich der kroatische Großmeister, der u.a. seinen Landsmann Bojan Kurajica 1965 zur U-20-Weltmeisterschaft führte und Al Modiahki, den ersten Großmeister des Katar, ausbildete. Letzterer ist übrigens mit der ehemaligen chinesischen Weltmeisterin Zhu Chen verheiratet. Gegenwärtig ist Marovic - wie der Rückentext kündet - Trainer der kroatischen Nationalmannschaft. Der Mann weiß also, dass man nur mit Hilfe der Bauern die Macht besitzt, in die königlichen Ränge aufzusteigen. Allerdings muss man das Verständnis haben, sie - je nach Situation - als Blockadefiguren, Rammböcke, Opfer usw. einzusetzen. Wann was angesagt ist, gehört zu den "Geheimnissen", denn Bauern können mal zur Schwäche neigen, mal eine Stärke darstellen.

   Auf 224 Seiten systematisiert Marovic den Umgang mit Bauern in sieben Kapiteln. Es sind alles Begriffe, die wir kennen und denen wir in vielen Trainingsstunden wieder und wieder begegnen. Und doch lohnt der Blick jeweils auf ein Neues, weil eben keine absoluten Regeln exisitieren. Marovic schreibt dazu in der Einführung: "Es gibt keine Regeln, die das komplexe Leben eines Bauern im Schach ganz beschreiben oder sichere, stets gültig Ratschläge vermitteln würden." Und etwas später formuliert er die Arbeitsphilosophie, mit der wir uns vertraut machen sollen: "Ich messe dem allgemeinen Verständnis hohe Bedeutung bei. Wenn wir etwas gut verstehen und im Gedächtnis abgespeichert haben, wird es uns stets helfen, den richtigen Plan zu finden, selbst wenn wir keine genauen Varianten und theoretischen Neuerungen kennen, und obwohl der unseren Entscheidungen zu Grunde liegende, mentale Prozess nicht bewusst ist." Anhand von fünf Abschnitten über einzelne Elemente von Bauernstrukturen und zwei Kapiteln über zusammenhängende Bauernstrukturen soll unsere Beherrschung der Aktionsmöglichkeiten mit und gegen Bauern als Teil bestimmter Stellungstypen vertieft werden:
  1. Isolierte Bauern

  2. Hängende Bauern

  3. Freibauern

  4. Doppelbauern

  5. Rückständige Bauern

  6. Bauernketten

  7. Bauerninseln

   Marovic führt in jedem Kapitel anfangs erst an, in welchen Varianten solch eine Bauernformation vorkommen kann, welche Last, aber auch welche Bedrohung sie darstellen kann. In diesem Zusammenhang sollte erwähnt werden, dass der Eröffnungsindex am Ende des Buches auch sehr hilfreich ist, denn man kann nicht nur die Bauerntypen schrittweise durcharbeiten, sondern andersherum zu "seinen" Eröffnungen" schauen, welche Bauernformation dabei anzutreffen sind. Außerdem gibt es noch einen Spielerindex, so dass man auch nach Lieblingsspielern Ausschau halten kann (Karpow und Kortschnoi sind mit den meisten Beispielen vertreten).

   In jedem Kapitel präsentiert Marovic ungefähr 15 Partien. Wie es sich für einen guten Trainer gehört, kommentiert Marovic viele Züge anschaulich mit Texterklärungen, angefangen bis zur Eröffnung bis zur Spielentscheidung. Natürlich stehen die Ziele und Pläne der Bauern im Mittelpunkt. Am Ende eines Kapitels fasst er zusammen, was sich an typischen Merkmalen angesammelt hat (bewegliche gegenüber unbeweglich Bauern, Figuren tauschen oder nicht, Bauernformation und Angriff im Zentrum oder besser an Flügeln, umwandeln von immobilen Bauern in mobile Angriffsfiguren, Wertewandel - gerade des Freibauen - vom Mittel- zum Endspiel, gute Doppelbauern oder schlechte Doppelbauern, rückständige Bauern als Teil bestimmter Eröffnungssysteme, feste Bauernketten und Möglichkeiten bzw. Hemmnisse der Zersprengung, Bauerninseln in der Praxis usw.). Es gilt, viele Aktionen und Reaktionen als Teil seines Entscheidungsprozesses schon mal gesehen zu haben. Hierin liegt der lehrreiche Nutzen von Marovic' Werk. Ich will zwei Beispiele zur Veranschaulichung herausgreifen:

 










Karpow,A - Kortschnoi,V [C09]
Moskau (Kandidatenfinale), 1974
[Drazen Marovic]

1.e4 e6 2.d4 d5 3.Sd2 c5 4.exd5 exd5 5.Sgf3 Sc6 6.Lb5 Ld6 7.dxc5 Lxc5 8.0-0 Sge7 9.Sb3 Ld6 10.c3 Eine der logischen Optionen, die von Karpow in seinen Zweikämpfen mit Kortschnoo angewandt wurde. Weiss gründet seine Strategie in der Eröffnungsphase auf das Erreichen totaler Kontrolle ueber das Feld d4. 10...Lg4 Eine natürliche Reaktion. Durch die Fesselung des Springers nimmt Schwarz den Kampf um das Feld d4 auf, denn er kann den Läufer jederzeit abtauschen. 11.Sbd4 0-0 12.Le2 In späteren Partien desselben Matches zog Karpow 12.Da4 vor, aber 12...Lh5 13.Le3 Dc7 14.h3 Sa5 mit dem Plan ...Sc4 hielt das Gleichgewicht aufrecht. 12...Te8 13.Te1 a6 14.Lg5 h6 15.Lh4 Db6 Nach der harmonischen Entwicklung trifft Kortschnoi die richtige Entscheidung, alle seine verfügbaren Kräfte gegen den Punkt d4 zu richten. 16.Db3 Lc5 17.Dxb6 Lxb6 18.Ld3 Es ist bereits jetzt klar, dass es keinen Weg für Weiss gibt, seine Herrschaft über das Feld d4 als Figurenstützpunkt aufrecht zu erhalten. 18...Kf8 19.a3 Sxd4 20.Sxd4 Lxd4 21.cxd4 Sf5 22.f3 Sxh4 23.fxg4 Sg6 Der Pulverdampf hat sich verzogen. Schwarz ist es gelungen, den Druck des Weißen im Zentrum abzuschütteln, ohne weitere Zugeständnisse zu machen (man vergleiche die Partie Karpow- Uhlmann, Madrid 1973). 24.g3 Weißspieler wähnen sich häufig in einer trügerischen Sicherheit, die oft an den Rand des Abgrundes führt. Anstatt mit 24. Lxg6 das Remis zu sichern, geht Karpow merkwürdigerweise in ein Endspiel, das vorteilhaft für seinen Gegner ist. [ 24.Lxg6 ] 24...Se7 25.Lf1 Sc6 26.Lg2 Txe1+ 27.Txe1 Td8 28.Kf2 Td6 29.Td1 Ke7 30.b4 Td8 31.Ke3 Kd6 32.Tf1 f6 33.Tc1 Tc8 34.Tc5 Se7 35.Lf1?! Dies ist ein ernster Fehler. 35. Txc8 gefolgt von a4 war angezeigt. 35...Te8 36.Kd2 f5 37.Le2 37.gxf5 Sxf5 aktiviert den Springer, der danach via e3 ins weiße Lager einzudringen droht. 37...fxg4 38.Lxg4 Tf8 39.Tc2 g6 40.Ke3 h5 41.Lh3 Sc6 42.Td2 b5?! Wenn Schwarz ...Te8+ mittels 42...g5 vorbereitet, dann ist die weiße Verteidigung nicht so einfach. 43.Lg2 a5 44.h4 axb4 45.axb4 Te8+ 1/2-1/2

Nach 45...Te8+: Weiss plante 46.Kf4 Sxb4 47.Kg5 Te3 48.g4 usw. Manchmal gehört das starke Feld vor dem isolierten Bauern ganz und gar dem Gegner. Man kann nur zusehen, wie er seine Leicht- und Schwerfiguren auf ihm paradieren lässt, wie es ihm gefällt. Wenn es jedoch möglich ist, dann zahlt der Druck aus, der auf dieses Feld ausgeübt wird, und zwar in Form positionellem Ausgleich oder sogar mehr, wenn es die Umstände erlauben ...

   










Fischer,R - Euwe,M [B13]
Leipzig (Olympiade), 1960
[Drazen Marovic]

1.e4 c6 2.d4 d5 3.exd5 cxd5 4.c4 Sf6 5.Sc3 Sc6 6.Sf3 Lg4 7.cxd5 Sxd5 8.Db3 Lxf3 9.gxf3 e6 Nun beginnt eine forcierte Variante. 9...Sxd4? verliert wegen 10.Lb5+, während Weiß nach der Hauptalternative 9...Sb6 Ideen mit 10.d5 verfolgen kann. 10.Dxb7 Sxd4 11.Lb5+ Sxb5 12.Dc6+ Ke7 13.Dxb5 Sxc3?! Nach dieser Partie wurde klar, dass Schwarz mit 13...Dd7 14.Sxd5+ Dxd5 15.Dxd5 exd5 fortsetzen sollte, wonach sich der weiße Vorteil in Grenzen hält. 14.bxc3 Dd7 15.Tb1! Ein kurzer Blcik auf die weisse Bauernstruktur deutet an, dass er sich in Schwierigkeiten befindet. Trotz seiner vier Bauerninseln ergreift er mit dem Textzug jedoch die Initiative. Die bessere weiße Entwicklung und seine aktiveren Figuren werden sich als wichtige Elemente bei der Bewertung der Stellung erweisen. 15...Td8 15...Dxb5 16.Txb5 Kd6 ist besser, aber es ist angesichts von 17.Tb7 f6 18.Ke2 Kc6 19.Tf7 a5 20.Le3 immer noch nicht leicht für Schwarz. 16.Le3 Dxb5 17.Txb5 Td7 18.Ke2 f6 19.Td1 So einfach wie möglich: Durch den Abtausch der aktiven Figuren des Gegners vergrößert Weiss seinen Vorteil. 19...Txd1 19...Tc7 hilft wegen 20.Tc5 nicht. 20.Kxd1 Kd7 21.Tb8 Kc6 22.Lxa7 g5 23.a4 Lg7 24.Tb6+ Kd5 25.Tb7 Lf8 26.Tb8 Lg7 27.Tb5+ Kc6 28.Tb6+ Kd5 29.a5 f5 29...Ta8 ist angesichts von 30.Tb7 Lf8 31.Txh7 Lc5 32.Lb6 nicht ausreichend. 30.Lb8 Tc8 31.a6 Txc3 32.Tb5+ Kc4 32...Kc6 ändert das Ergebnis wegen 33.Ta5 Ld4 34.Ke2 nicht. 33.Tb7 Ld4 34.Tc7+ Kd3 35.Txc3+ Kxc3 36.Le5 1-0

Eine kurze, einfache Partie, die kaum einer Erklärung bedarf. Ich habe sie am Ende meiner Überlegungen als Warnung angefügt, dass es im Schach keine immer gültigen Prinzipien und keine Regeln ohne Ausnahmen gibt. Wir haben versucht, Lektionen zu lernen und logische Schlussfolgerungen daraus zu ziehen, nicht um sie buchstabengetreu zu glauben, sondern um sie zu verstehen, so dass wir über die Prizipien hinwegsehen und allgemeinen Rat kritisch betrachten können. Nur der, der die Prinzipien des Schachs perfekt versteht, kann dies leisten.

 

   Als Fazit möchte ich unterstreichen, dass ich der Meinung bin, dass es sehr wichtig ist, spezielle Bauernformationen zu kennen und auch zu wissen, wie man sich in diesen Stellungen verhalten muss. Marovic hat dies sehr verständlich beschrieben und durch die Zusammenfassung jedes Kapitels wird noch einmal genau darauf hingewiesen, auf was man alles achten und wie man vorgehen sollte. So etwas sollte man sich vor allem vor einem Turnier oder einer wichtigen Partien ruhig kurz in Erinnerung rufen. Ich denke, dieses Buch ist für Spieler ab 1600 sehr gut geeignet, denn alle Spielertypen sollten sich generell für das Verständnis der Bauern interessieren. Durch "Geheimnisse der Bauernführung im Schach" betrachtet man Spielverläufe mal aus einem ganz anderen Blickwinkel und bekommt - wegen der gelungenen Mischung aus historischen Partien, vielen Spielen aus den 60er und 70er Jahren, aber auch Gegenwartsparteien - sicher auch bisher weniger bekannte Partien mit ihrem modellhaften Wert zur Inspiration. Man ahnte oft gar nicht, welche verborgene Kräfte hinter solch einem Bauern steckt, wenn man nur richtig damit umzugehen weiß. In diesem Zusammenhang führt Marovic eine nette Anekdote an (in der Zusammenfassung über hängende Bauern): "Ich erinnere mich noch genau an eine Szene im Presseraum beim Turnier von Banja Luka 1979. Zwei Spieler verteidigten zäh eine zweifelhafte Stellung gegen zwei kraftvolle weiße Bauern auf der vierten Reihe. Doch es gelang nicht: Was sie auch immer versuchten, es schlug fehl. Tigran Petrosjan sah sich dies in Ruhe an, und einer der verteidigenden Spieler wandte sich an ihn, um seinen Rat einzuholen: "Was würden sie in dieser Stellung spielen?". Petrosjan antwortete: "Ich würde eine solche Stellung niemals zulassen!" Wenn man dieses Buch intensiv studiert hat, hat man vielleicht ein wenig von der Weisheit des armenischen Weltmeisters begriffen. Und wer wünscht sich dies nicht ...

 

 

Das Rezensionsexemplar stellte die Firma Niggemann (Industriestraße 10, 46359 Heiden) zur Verfügung.


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