Sizilianisch Maßschneidern a la Kasparow John Emms bietet ein beachtenswertes Najdorf-Repertoire-Buch aus schwarzer Warte Rezension von Harald Fietz, Januar 2004 Kommentare zur Rezension können im Schach-Forum präsentiert werden |
Everyman Chess 2003
ISBN 1-85744-323-3
192 Seiten; 23,40 Euro
Sprache: Intermediate Englisch
Bewertung des Rezensenten:
Der Schachbuchmarkt boomt! Und obwohl deutschsprachige Verlage in jüngster Vergangenheit interessante Neuerscheinungen herausgebracht haben, können sie quantitativ nicht mit der Flut von englischsprachigen Werken mithalten. Die Weltsprache hat es einfach leichter, da die Auflagen höher sind und Autoren aus vielen Ländern ihre Visitenkarte weltweit abgeben wollen. Nur einige Bestseller werden für den deutschsprachigen Raum übersetzt (z.B. Titel aus dem Londoner Gambit-Verlag). Bei Eröffnungsbüchern reichen aber in der Regel Schulkenntnisse oder ein gutes Wörterbuch aus, um Texterklärungen zu verstehen. Ausführliche Erläuterungen zum Wert von Varianten und ihren spezifischen Konturen gehören inzwischen zu den Markenzeichen der verstärkt auf maßgeschneidertes Wissen setzenden Eröffnungsreihen. Nach Überblicksbüchern zur ersten Partiephase (z.B. Nunn's Chess Openings, Attacking with 1.e4, Easy Guide to the Nimzo-Indian bzw. the Ruy Lopez, Starting out: The Sicilian) hat der Everyman-Verlag GM John Emms jetzt mit der Bearbeitung von sizilianischem Spezialterrain betraut. Nach einem beachtlichen Ausflug zur vernachlässigten Kan-Variante nimmt er sich in seinem jüngsten Werk ein Schwergewicht vor: "Play the Najdorf: Scheveningen Style" wird mit dem verkaufsfördernden Zusatz "ein komplettes Repertoire für Schwarz zu dieser dynamischsten aller Eröffnungen" dekoriert.
Der Titel deutet an, was dem Kunden heute für die schwarzen Steine offeriert werden muss: Dynamik, damit Gegenspiel möglich ist, und Vollständigkeit, diese aber bitte in selektiver, überschaubarer Dosis. Ein solcher Fokus ist möglich, wenn die Erfolgbedingung richtig gesetzt wird: Die Festlegung auf eine bestimmte Bauernstruktur und das bedeutet im vorliegenden Fall den Scheveninger Typ mit kleinem Bauernzentrum durch d6 und e6. Damit begibt man sich in die Welt der Zugumstellungen und da bedarf es kompetenter Führung. Emms erläutert ein grundsätzliches Abwägen im Vorwort: Mit 5. ... a6 statt 5. ... e6 vermeidet Schwarz, weil er noch einen Extra-Zug lang g4 kontrolliert, in den Keres-Angriff zu geraten, doch muss er dann vorbereitet sein, sich mit der ultra-aggressiven Hauptvariante 6. Lg5 auseinander zu setzen. Damit kann man leben, meint der Engländer, denn er hat einen hochkarätigen Fürsprecher auf seiner Seite. Gary Kasparow hat sich oft genug damit seine Toperfolg gesichert. Der Bundesliga-Spieler von der SG Solingen organisiert sein Material nach folgenden Schwerpunkten:
43 Seiten sind gegen Bobby Fischers Lieblingszug 6.Lc4 notwendig, weil es keine ganz ungefährliche Waffe ist, gegen die der Schwarzspieler - da er zunächst nur reaktiv kontern kann - gezwungen ist, verschiedene, passende Gegenmittel zu kennen. Dieses Kapitel ist insofern spannend, als Emms die Variante auch mit den weißen Steinen spielt und einige seiner Produktionen diskutiert. Für den Bereich gilt generell: Pauken ist die erste Devise!
33 Seiten reichen gegen den derzeitigen Modezug 6.Le3, weil Schwarz mit 6. ... e6 Zweidrittel aller Theorie (d.h. alles mit 6. ... e5 und 6. ... Sg4) über Bord wirft. Emms unterstreicht, dass er nicht ganz nachvollziehen kann, warum diese Herangehensweise derzeit wenig praktiziert wird!
52 Seiten zeigen gegen die positionelle Behandlung mit 6.Le2, dass Schwarz sich auf weiße Optionen mit einer Bandbreite von ruhiges Lavieren bis ungestümer Angriff einstellen muss. Auffällig ist, dass hier aktuelle Partien weniger vorkommen, was Potential für beide Farben vermuten lässt!
27 Seiten genügen gegen den Klassiker mit 6.Lg5, weil Schwarz festlegt, was gespielt wird. Emms hält sich an die von Kasparow bevorzugten Aufbauten mit Dame auf c7 und b5-Aufmarsch. Die Anlehnung an das Richter-Rauser-System soll Schwarz auf scharfe Varianten polen!
22 Seiten bleiben für Gegenmittel auf 6.f4, 6.g3, 6.Tg1 und 6.h3. Was in den 80er und 90er Jahren noch als Trends proklamiert wurde (z.B. der Aufschwung von 6.f4 nach diversen Auflagen von John Nunns "Beating the Sicilian"), ist heute weitgehend entschärft. Da der auf typische Najdorf-Strukturen fixierte Nachziehende aber recht eigenwilligen - teilweise aggressiven - weißen Plänen begegnet, muss ebenso unvoreingenommen hingeschaut werden. Selbst Kasparow hat gegen 6.Tg1 ein Minus-Ein-Score!
Auffällig ist bei Emms neustem Wurf, dass er noch mehr Wert auf die wortreiche Skizzierung von Figurenmanövern und die Auf-und-Abs der Geschichte der jeweiligen Variante legt. Statt der resümierenden Tabellenübersichten in früheren Werken gibt es jetzt nach jedem Kapitel eine kurze Merkliste ("Points to Remember"), was insbesondere für den schnellen Blick während des Turniers als Hilfsmittel geeigneter erscheint.
Ein Beispiel von Emms' Kronzeugen veranschaulicht, warum Najdorf so populär ist. Es kann vermutet werden, dass die Kontrahenten die Variante in der Vorbereitung auf das ursprünglich in Jalta angesetzte, aber dann geplatzte WM-Qualifikationsmatch auf dem Brett hatten.
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R. Ponomariow - G. Kasparov
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So präsentierte Eröffnungszusammenhänge können mit einem Wort bilanziert werden: Inspirierend!
Eine zweite Meinung: Rezension von Joachim Kick.
die Rezension erschien zuerst in Schachmagazin 64, Nr. 24 / 2003, S. 667
das Rezensionsexemplar stellte die
Firma Niggemann
(Industriestraße 10, 46359 Heiden) zur Verfügung