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Beleuchtet und durchleuchtet

2 Bücher mit Judit Polgar

Rezension von Harald Fietz, Fotos Metz&Fietz, März 2005

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Tibor Károlyi: Judit Polgar

 

Bettina Flitner: Frauen mit Visionen

Batsford Verlag 2004
ISBN 0-7134-8890-5
288 Seiten; 24,95 Euro

Knesebeck Verlag 2004
ISBN 3-89660-211-X
Großformat, 224 Seiten; 39,80 Euro

Bewertung des Rezensenten: Bewertung 4,5 aus 5 Bewertung des Rezensenten: Bewertung 4,5 aus 5

 

   Judit Polgar rangiert seit Anfang 1989 auf Platz eins der Frauenweltrangliste und schaffte es Anfang 2004 - nach 1996 - erneut unter die Top Ten der Herren. Wie würdigt man eine noch junge Ausnahmeerscheinung in ihrem Metier?

Judit Polgar

Judit Polgar; Foto: Metz

 

   Zeitgleich mit einer ersten längeren, babybedingten Schaffenspause befassen sich zwei Bücher mit der 28-jährigen Budapesterin. Die Fotografin Bettina Flitner stellt die Jüngste aus dem Schwestern-Clan als europäische "Frau mit Vision" vor, während der ungarische IM Tibor Károlyi, der Judits Schwestern Zsuzsa und Sofia in frühen Jahren trainierte, anhand von 89 tiefgründig analysierten Partien einen Überblick über 20 Jahre Schachwirken liefert. So unterschiedlich die Mittel der Betrachtung, so ähnlich die Betrachtungsweisen. Man beleuchtet und durchleuchtet, indem man versucht, einerseits die Person selbst agieren zu lassen (auf Bild im Alltagsgeschäft Nuancen des Selbstverständnis in Gesichtsausdrücke zu bannen, in den Partien typische Spielanlagen zu zeigen), andererseits die Person losgelöst vom gewohnten Umfeld darzustellen (Bilder an unvermuteten, trotzdem symbolträchtigen Orten, Partien - zwar chronologisch - doch ohne Bezug zur Turniergeschichte eher als geschlossene Bausteine eines überdurchschnittlichen Könnens). Solche psychologischen Sicherheitsabstände, selektive Objektivierung und künstliche Inszenierung sollen beitragen, selbst-verklärte, geschönte Blickwinkel zu vermeiden.

   Bettina Flitner präsentiert ihre 48 Frauen aus Politik, Wissenschaft, Kultur und Sport mit dem Konzept des Doppelporträts, d.h. es gibt immer ein S/W-Bild, welches nur das Gesicht zeigt. Hier bildet sich die Spanne der "Augen als Spiegel der Seele" ab - das Schwarz-Weiß verstärkt zudem das ruhige Moment, wo lebendige Farben eher interpretierende Wirkungen erzielen. In gestellten Situationen tauchen hintergründige Zusammenhänge auf (so wird z.B. die französische Astronautin Claudie Haigneré im Weltraumanzug in ein Ginsterfeld gestellt, wobei die Pflanze eine der ersten Vegetationen auf der Erde war, oder die österreichische Komponistin Olga Neuwirth sitzt in einer Berliner U-Bahnstation, wo die zufällige Geräuschkulisse großstädtischer Betriebsamkeit regiert). Judith Polgar, die im März 2002 in ihrem Sommerhaus in der Nähe der ungarischen Hauptstadt abgelichtet wurde, trägt facettenreiche Gesichter: einen offenen Geradeausblick, den ein Hauch Pokerface umspielt, geschlossene Augen, die dennoch keinen meditativen Ruhezustand spiegeln, sondern das Kopfticken über die nächste Variante, und das zielstrebige Fixieren vor dem Schachbrett mit durchdringender Vorahnung einer siegreichen Wendung. Kurze biographische Texte von Alice Schwarzer skizzieren mit knappen Sätzen Zielsetzungen der Betroffenen, aber gerade im Fall der Schachspielerin gab es schlechte "Flüsterer": die ehemalige Weltmeisterin Zsusza Polgar als "Beste der ungarischen Frauenliga" zu bezeichnen ist ebenso verfehlt, wie die Klamotte eines heranwachsenden Bobby Fischer von Anfang der 60er Jahre rauszukramen, der jeder Frau einen Springer vorgeben wollte. Trotz dieser Schönheitsfehler ein sehens- und schenkenswerter Band.

   Wo die Fotografin (mehr unter www.bettinaflitner.de) versucht, Gefühlslagen eine Abbildung zu geben, nimmt sich Károlyi ganz zurück. Er glaubt, dass die Persönlichkeit wenig Einfluss auf das Schaffen hat: "Ist es wirklich wichtig, ob Homer, Mozart, Napoleon, Chaplin, Shakespeare, Newton oder Carl Lewis nett oder arrogant, schwache oder gutherzige Menschen waren oder was sie motivierte: Ruhm, Geld, Eitelkeit oder der Wunsch, ihrem Land zu dienen?" Zwar erzählt er vom pädagogischen Konzept des Vaters Laszlo, frühen Trainingstunden, dem Alltag im kommunistischen Ungarn oder philosophiert über Jungtalente und günstige bzw. ungünstige Rahmenbedingungen, aber dies fügt sich nicht zu einem Bild über den Werdegang und Karrierehöhen und -tiefen. Die Stärke der über 280 Seiten mit kleinem, platzfüllenden Druck sind schlicht die Partien (nur fünf Partien davon keine Königsbauereröffnungen!). Der Schwerpunkt liegt auf Mittelspielstellungen, wo der Autor seinen Trainerblick mit methodischen Erklärungen besonders entfaltet. Aber auch pikante Endspiele - frei nach dem Motto "weniger Steine, mehr Probleme" - gibt es. Hier zog die damals 14-Jährige:

 










Polgar,J - Lazic,M
Dortmund (B-Turnier), 1990

63...Te4 64.Kf5 Te7 65.Tc8+ [Judith erklärt, wie sie auch auf andere Weise gewinnen konnte. 65.Txe7 Lxe7 66.Kg6 Lf8 67.Sf6+ Kh8 68.h6 Le7 69.Sg4 Lf8 (69...Ld6 70.h7 ) 70.Se5 ] 65...Kg7 [Nach 65...Kf7 66.h6 kann sogar den Läufer nicht opfern: 66...La3 67.h7 Lb2 68.Sh6+ ] 66.h6+ Kh7 67.Sf6+ Kxh6 68.Tg8! 1-0

 

   In Ermangelung einer Autobiographie bietet Károlyi rein schachlich ein solide Standortbestimmung bis Ende 2003, während Flitner der Schachspielerin einen für Denksportler ungewöhnlichen gesellschaftlichen Kontext zubilligt. Kurzum: Bücher, die Neugier erfordern.

 

Ausstellung Bettina Flitner Ende 2004 im Berliner Museum

Die Schachspielerin in einer Art "Hall of Fame" in der Bettina Flitner Ausstellung Ende 2004 im Berliner Museum für Kommunkation: (von oben links): Judith Polgar, daneben die finnische Ökonomin Sirkka Hämäläinen, die frühere Herausgeberin der ZEIT Marion Gräfin Dönhoff, unten links die KZ-Überlebende Ceija Stoika und daneben die deutsch-rumänische Schriftstellerin Herta Müller. Foto: Fietz

 
 

die Rezension erschien zuerst in Schachmagazin 64, Nr. 24 / 2004, S. 665 / 666
das Buch von Károlyi stellte Schach Niggemann (Industriestr. 10, 46359 Heiden) für die Rezension zur Verfügung
den Fotoband von Flitner stellte der Knesebeck-Verlag für die Rezension zur Verfügung



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