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Zwischen Abgesang und Himmelssturm

Eduard Gufeld, Efim Lazarev: Leonid Stein
Garry Kasparov: My Great Predecessors Part 3

Rezension von Harald Fietz, Januar 2005

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Eduard Gufeld, Efim Lazarev: Leonid Stein

 

 Garry Kasparov: My Great Predecessors Part 3

Thinker’s Press 2001
ISBN 0-938650-54-8
256 Seiten; 29,65 Euro

Everyman 2004
ISBN 1-85744-371-3
332 Seiten; 39,40 Euro

Bewertung des Rezensenten: Bewertung 4 aus 5 Bewertung des Rezensenten: Bewertung 5 aus 5

 

   Nie hing die Karriere eines Weltklassespielers so am seidenen Faden wie bei Leonid Stein. Im allerletzten Versuch als zweiter Nachrücker gelang es ihm, sich 1959 auf ukrainischer Ebene für das Halbfinale der UdSSR-Meisterschaft, den internen Qualifikationszyklus der damals mit Abstand stärksten Schachnation, zu qualifizieren. Im Winter davor begrub der 25-Jährige bereits alle Hoffnung und kehrte dem Schachsport den Rücken, um als Schweißer in einer metallverarbeitenden Fabrik seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Am 12. November 2004 hätte der Spätberufene seinen 70. Geburtstag gefeiert - doch ist der in Lwow Aufgewachsene schon über drei Jahrzehnte tot. Keine 39 Jahre alt erlag er kurz vor dem Abflug zur Mannschaftseuropameisterschaft im englischen Bath und dem anschließenden Interzonenturnier im brasilianischen Petropolis am 4. Juli 1973 einem Herzinfarkt - das erfolgreiche Dutzend Jahre in den höchsten Kreisen der Schach-Nomenklatura war just voll, die Beschränkung von sowjetischen Spielern an Kandidatenwettkämpfen eben aufgehoben.

   "Leider ist sein Name heute in der Schachwelt fast vollkommen vergessen, besonders außerhalb der früheren Sowjetunion", bedauert Garry Kasparow in seinem gerade erschienen dritten, englischen Band seiner Vorgänger-Reihe (die deutschen Bände hinken bedauerlicherweise ihrem Veröffentlichungsplan hinterher). Mit Tigran Petrosjan und Boris Spasski widmet sich der Weltranglistenerste zwei oft vernachlässigten, aber deshalb um so spannenderen Weltmeistern und würdigt hervorragende Zeitgenossen - diesmal Svetozar Gligoric, Lew Polugajewski, Lajos Portisch und eben Stein, der mit 45 Seiten und 17 Partien einen exponierten Platz erhält. Am Schluss seiner Hommage kramt Kasparow eine Anekdote heraus: "Ich erinnere mich, wie mir Eduard Gufeld beim internationalen Turnier 1980 in Baku überschwänglich von seinem neuen Buch über Leonid Stein erzählte. Am Ende blickte er vorsichtig in die Runde und flüsterte mir leise ins Ohr: 'Weißt Du, im Jahr 1973 war Stein stärker als Karpow!' - und eilte dann zügig davon." Dieses Buch von Gufeld liegt seit 2001 mit 90 Seiten Biographie und 62 Partien in englischer Sprache vor. Einiges vom staatskonformen Schreibstil der russischen Ausgabe Ende der 70er Jahre ist geglättet - sogar der abtrünnige Viktor Kortschnoi wurde mit einer Begegnung gegen Stein eingefügt. Beide Werke ergänzen sich in idealer Weise, um eine Annäherung an der Phänomen Stein zu ermöglichen. Während Kasparow erst mit Steins Wirken auf bedeutenden Turnieren ab 1960 einsetzt, skizziert Gufeld auch den von Zweifeln und Misserfolgen gekennzeichneten Schachweg seit Ende der 40er Jahre, als der 13-Jährige (!!) erstmals einem Schachclub beitrat. Was zeichnet - kurz resümiert - Steins Stellenwert aus?

   Der sportliche Titan: Wer bei zehn UdSSR-Meisterschaften dreimal den Sieg davonträgt, und 63,4% der Punkte erzielt (nur Botwinnik lag mit 69,2% in der gesamten kommunistischen Schachhistorie zwischen 1920 und 1991 besser), muss einen universellen Schachstil haben - gerade wenn man bedenkt, dass Stein immer wieder von "Rückschlägen" aufstand, da er dreimal aufgrund der Regelung, dass nur eine begrenzte Anzahl von Sowjets im Kandidatenzyklus weiterrückten durfte, in Interzonenturnieren hinter ihm platzierte Spieler vorlassen musste. Kurz vor seinem Ableben verschwand diese tragische Hürde. Zudem gewann er zwei der bedeutendsten Turniere seiner Zeit, das Großmeisterturnier 1967 zum 50. Jahrestag der Oktoberrevolution und das Aljechin-Gedenkturnier 1971 (zusammen mit Karpow).

   Der Turnierpragmatiker: Stein kannte seine Schwächen (hastiges Spiel - bisweilen noch schneller als Anand dieser Tage - mit 15 Minuten für eine Turnierpartie, impulsive Züge ohne ausreichende Rechentiefe, zu wenig Turniervorbereitung), aber er schaffte es häufig, seine Fehlstarts durch schieren Siegeswillen mit Gewinnserien in der zweiten Turnierhälfte zu kompensieren.

   Der Allround-Spieler: Stein spielte mit den weißen Steinen fast alle Eröffnungen von 1.e4, 1.d4, 1.c4 bis sogar 1.g3 - mit einer gewissen Vorliebe für Finachetto-Systeme. Insbesondere seine Beiträge zur Spanischen Eröffnung (mit Weiß) und der Königsindischen Verteidigung (mit Schwarz) forschten bis weit ins Mittelspiel und bereicherten u.a. diese Spielanfänge mit tiefgründigen Ideen, die Gufeld unter dem Begriff der Risiko-Strategie definiert: innovative Wege beim Abwägen zwischen Materialopfern für Kompensation und Vertrauen in unausgeglichene Figurenverhältnisse. Neben vielen originellen Spielführungen im Mittelspiel, sticht Steins Erfindungsreichtum im Endspiel heraus - insbesondere in Konstellationen mit Turm und Leichtfigur oder Turm und Dame. Aber auch technischer Feinschliff lag ihm, wie das abschließende Beispiel offenbart.

   Allein diese drei Facetten sollten ausreichen, Leonid Stein mit seinen Stärken und Schwächen neu zu entdecken. Als Einstieg mag ein subtiler Schlussakkord aus der Schlussrunde bei seinem UdSSR-Meisterschaftsdebüt Anregung geben. Die Konstellation gestaltete sich prekär: Mit einem Remis hätten sich beide Spieler für das Interzonenturnier qualifiziert (welches Bobby Fischer dann 1962 glanzvoll in Stockholm gewann und dort sofort Freundschaft mit Stein schloss), durch einen Sieg konnte Stein die Bronzemedaille erringen.

 










Stein,L - Spasski,B
Moskau (UdSSR-Meisterschaft), 1961

Boris Spasski gab g4 als in den Umschlag und bekannte sich ohne Wiederaufnahme geschlagen, womit er seinen Anlauf auf dem WM-Thron für fünf Jahre begraben musste. Die instruktive Gewinnführung lautet bei Kasparow: 42.hxg4 hxg4 43.a5! Kd5! [43...Kb5 44.Kd3 Lh4 45.Le1 f5 46.Kd4 erlaubt, die schwarzen Bauern abzuholen.] 44.a6! [nicht 44.Kd3? f5! 45.a6 Kc6 46.Le3 La5!! 47.Kc4 Le1 48.a7 Kb7 49.Kd5 g3 50.fxg3 Lxg3 mit Remis.] 44...Kc6 45.f5! Lh4 [45...Kb6? 46.La5+! ] 46.Le3 g3 47.fxg3 Lxg3 48.Kf3 Le5 49.Ke4 Lg7 50.a7 Kb7 51.Kd5 Lf8 52.Lf2! Le7 53.Lc5 Lg5 54.Kd6 und gewinnt. 1-0

 

 

die Rezension erschien zuerst in Schachmagazin 64 Nr. 22 / 2004, S. 611
Bücher erhältlich bei Schach Niggemann (Industriestr. 10, 46359 Heiden)


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