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Bewegte Biografien

John Donaldson: Zwei Meister aus Seattle

von Peter Oppitz, Oktober 2003

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John Donaldson: Zwei Meister aus Seattle

ChessBase 2003, ca. 25 Euro
CD-ROM ISBN: 3-935602-82-0
Systemvoraussetzungen: Pentium-PC, 32 MB RAM, Win95/98/2000/ME/XP, CD-Laufwerk
Sprache: Texte deutsch, Partiekommentare englisch

Bewertung des Rezensenten: Bewertung 3,5 aus 5

 

   Der amerikanische Internationale Meister und Journalist John Donaldson hat sich auf dem Buchmarkt bereits einen guten Namen gemacht mit dem gewichtigen Eröffnungs-Standard-Werk "Accelerated Dragons" und den historischen Recherchen "A Legend On The Road - Bobby Fischer´s Simul Tour 1964" und "The Unknown Bobby Fischer". Zwei weitere kleine Bücher widmete er kürzlich den weniger bekannten Meistern seiner Heimatstadt Seattle: Mit "Elmars Zemgalis - GM without a Title" und "Olaf Ulvestad - An American Original" setzte er den Spielern der Vergangenheit ein Denkmal. Beide Bände sind nun in leicht erweiterter Fassung und deutscher Übersetzung auf der neuen ChessBase-CD "Zwei Meister aus Seattle" zusammengefaßt.

   Beide porträtierten Meisterspieler dürften bei uns weitgehend unbekannt sein, obwohl sie in ihren Lebensläufen und Schachkarrieren enge Verbindungen mit Europa hatten.

   Elmars Zemgalis wurde 1923 in Lettland geboren und reifte dort in der Tradition von Nimzowitsch, Amateur-Weltmeister Mattison und Petrovs zum vielversprechenden jungen Schachtalent heran. Wie viele andere Balten auch, veranlaßte ihn die Okkupation Lettlands durch die Sowjets zur Flucht in den Westen, und von 1946 bis 1952 lebte er als Vertriebener in Deutschland. In der wiederaufkeimenden Turnierarena nach dem 2. Weltkrieg feierte Zemgalis seine größten Erfolge. Bei Turnieren wie Augsburg und Regensburg 1946 kreuzte er sowohl mit den älteren Meistern wie Bogoljubow, Kieninger und Sämisch wie auch mit dem aufstrebenden Jungtalent Unzicker die Klingen und feierte beachtliche Erfolge. Von 12 Turnieren in Deutschland gewann Zemgalis sieben, wurde dreimal Zweiter und zweimal Dritter. Den Höhepunkt bildete gewiß sein geteilter Sieg mit Bogoljubow (ungeschlagen 12 aus 17) beim bis dahin stärksten deutschen Nachkriegsturnier in Oldenburg 1949. Als die FIDE 1950 mit offiziellen Titelverleihungen begann, bekamen 11 der 18 Teilnehmer von Oldenburg den GM- oder IM-Titel. Warum Zemgalis trotz seiner herausragenden Leistung übergangen wurde, ist heute schwer zu verstehen. Allerdings kümmerte er sich da schon mehr um einen bürgerlichen Lebensunterhalt, emigrierte 1952 in die USA, ließ dort seine Schachaktivitäten ausklingen und beendete seine aktive Karriere bereits 1966 im Alter von 43 Jahren.

   Olaf Ulvestad (1912 - 2000) hingegen wurde in Amerika geboren, doch seine Vorfahren stammten aus Norwegen. In den 30er Jahren tauchte Ulvestad in der ostamerikanischen Schach-Szene auf, und zeitlebens ließ ihn das Spiel nicht aus dem Bann. Am bekanntesten ist sicherlich sein Auftritt beim Vergleichskampf UdSSR gegen USA 1946 in Moskau. Mit 34 Jahren der Jüngste im US-Team (bestehend aus Reshevsky, Fine, Denker, Horowitz, Kashdan, Steiner, Pinkus, Kevitz, Dake), gelang ihm bei der deutlichen Niederlage des US-Teams am letzten Brett ein ehrenvolles 1:1 gegen den 22-jährigen Bronstein, wobei die erste Partie ein Marathon von 119 Zügen und fast 15 Stunden Spielzeit war. Ulvestads ausführlicher Zeitungsbericht ("Könige und Bauern in Sowjetrussland") über diese abenteuerliche Reise ist auf der CD vollständig wiedergegeben. Auch wenn er es nicht ganz in die erste Reihe amerikanischer Meister schaffte, war Ulvestad mit seinem unternehmungslustigen Spielstil in vielen Open aktiv, und von 1960 bis 1986 lebte er in Europa - vorwiegend Spanien. Bemerkenswert etwa seine Teilnahme an der Schach-Olympiade Siegen 1970 unter der Flagge von Andorra!

   Höhepunkt der CD sind zweifellos die jeweils vier ausführlichen biografischen Texte, in denen das wechselvolle und ungewöhnliche Leben der porträtierten Meister detailliert chronologisch dargestellt wird. Donaldson hat sorgfältig recherchiert, in Zusammenarbeit mit den Familien gearbeitet und Tabellen, Berichte aus zeitgenössischen Magazinen und Zeitschriften und 20 historische Fotos gut in die Texte eingebunden. Dazu gibt es ein kurzes Interview mit Zemgalis aus dem Jahr 2002.

   Der historisch Interessierte wird bestimmt schnell fündig. Wem hingegen nur an Schachzügen gelegen ist, der muss bei dieser CD mehr Mühe und eigenes Hirnschmalz investieren. Die Datenbanken weisen 190 Partien von Zemgalis und 336 von Ulvestad auf (deutlich mehr als die MegaBase03 mit 42 bzw. 203), von denen allerdings nur jeweils 45 kommentiert sind. Während die Texte ins Deutsche übersetzt sind, wurden die sowieso spärlichen und leicht verständlichen Partie-Anmerkungen in Englisch belassen. Oft beschränken sie sich auf Quellenangaben oder kurze taktische Hinweise.

   Eine nähere Analyse des Eröffnungsrepertoires oder bevorzugter Varianten fehlt leider vollständig. Mindestens hätte man sich ein Eingehen auf die bekannte zweischneidige Variante des Zweispringerspiels (C57 : 1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lc4 Sf6 4.Sg5 d5 5. exd5 b5!?) gewünscht, die in der Theorie immerhin den Namen Ulvestads trägt. Ebenso vermißt man jegliche Charakterisierung des individuellen Spiel-Stils.

   Elmars Zemgalis war in seiner kurzen Glanzzeit unstrittig ein Spieler von Großmeister-Stärke. Am Brett pflegte er einen soliden und schwer bezwingbaren Positionsstil. Taktische Feuerwerke wird man bei ihm selten finden, für kleine Kombinationen bei Abwicklungen oder gegnerischen Ungenauigkeiten hatte er jedoch stets ein waches Auge. Bekanntlich war das Leistungsgefälle innerhalb der Nachkriegsturniere sehr groß, und im Spiel gegen schwächere IMs oder lokale Meister zeigen sich Zemgalis' gediegene Manöver und strategische Pläne oft in aller Deutlichkeit. Immerhin bietet die CD einen kleinen Text mit Hinweis auf 10 ("beste") ausgewählte Partien. Den folgenden unspektakulären technischen Sieg gegen den späteren Bremer Fernschach-GM Hermann Heemsoth bezeichnet Zemgalis dort als "als eine Partie, die meinen Stil sehr gut charakterisiert".

 










Heemsoth,H - Zemgalis,E [A14]
Oldenburg (7), 1949

1.c4 Sf6 2.Sf3 e6 3.g3 b6 4.Lg2 Lb7 5.0-0 Le7 6.Sc3 c5 7.b3 d5 8.cxd5 Sxd5 9.Sxd5 Lxd5 10.Lb2 Lf6 11.Lxf6 Dxf6 12.d4 Sd7 13.dxc5 Sxc5 Bislang eine recht fade Abtauschvariante. 14.b4?! Plötzlich wird Weiß voreilig aktiv. Zwar wird die Rochade verhindert, doch steht der König auf e7 völlig sicher, und die weißen Schwächen am Damenflügel bleiben. [ Korrekt war 14.Dd4 mit Ausgleich] 14...Se4 15.Da4+ Ke7 16.Tac1 Sc3 17.Dc2 Thc8 18.Sh4? Zeitverlust 18...g5 19.Sf3 Tc4 Schwarz vergrößert beständig den Druck. Schwarz vergrößert beständig den Druck. 20.Db2 Tac8 21.Tc2 Se4 22.Dxf6+ Kxf6 23.Txc4 Txc4 24.a3 Tc2 Im Endspiel hat Schwarz alle Trümpfe - aktiver König, bessere Figurenstellung und weniger verwundbare Bauernstellung. 25.Sd4 Ta2 26.Lxe4 Lxe4 27.Sb5 Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Schwarz Material gewinnt. 27...Lb7 28.Sxa7 Txa3 29.Sb5 Tb3 30.Sd6 La6 31.f4 Ke7 32.b5 Lxb5 33.Sc8+ Kf8 34.fxg5 Lxe2 35.Tf2 Lh5 36.Td2 Kg7 37.Kf2 Kg6 38.h4 Kf5 39.Sd6+ Kg4 40.Se4 Kh3 41.Kg1 Lf3 42.Th2+ Kg4 0-1

 

   Deutlich unternehmungslustiger agierte Olaf Ulvestad in seinen Partien. Einem taktischen Geplänkel nie abgeneigt, ging zuweilen die Phantasie mit ihm durch, und seine Resultate waren wesentlich schwankender. So endete denn auch der einzige direkte Vergleich der beiden vorgestellten Meister, ein kleines Match 1952 in Seattle, mit einem klaren 3:1 - Sieg für Zemgalis gegen Ulvestad. Gekämpft um jeden Preis wurde jedoch immer, und er versuchte stets die Stellungen kompliziert und lebendig zu halten! Die Original-Anmerkungen von Donaldson zur folgenden Partie sind typisch für die vorliegende CD:

 










Ulvestad,O - Dely,P [A70]
Reggio Emilia 1960/61 Reggio Emilia (5), 1960
[Donaldson]

1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.Sf3 c5 4.d5 exd5 5.cxd5 d6 6.Sc3 g6 7.e4 Lg7 8.Lb5+ Sbd7 9.Lf4 a6 10.Lxd7+ Dxd7 11.h3 0-0 12.0-0 Se8 13.Dd2 b5 14.e5 b4 15.Se4 dxe5 16.Sxe5 Lxe5 17.Lxe5 Df5 Hungarian IM Dely attacks two pieces at once, but Ulvestad has seen further. 18.Ld6! Dxe4?! [ 18...Sxd6 19.Sxd6 Df6 20.Se4 gives White a big advantage, but was better than the text.] 19.Lxf8 Kxf8 20.Dh6+ Sg7 [ 20...Kg8?? 21.Tfe1 ] 21.Dxh7 Black has no defense against Rook to the e-file and Qh8+. 21...f6 22.Tfe1 Df5 23.g4?! [ 23.Dh8+ Kf7 24.d6 Ta7 25.Te7+ Txe7 26.dxe7 won the spot - Fritz.] 23...Dd7 24.Te3?! [ 24.d6! Dxd6 ( 24...Se6 25.Dh8+ Kf7 26.Tad1 leaves Black completely tied up.) 25.Tad1 ] 24...Lb7 [ 24...Dxd5 is a tougher try; 25.Tae1 Lb7 26.Dh8+ Dg8 27.Dh6 Dd5 28.Dh8+ Dg8 is only a draw, but 29.Dh6 Dd5 30.f3 Dd4 31.Kg2 shows that Black is still in trouble - Fritz.] 25.Td1 Td8 26.d6 Te8 27.Txe8+ Dxe8 28.d7 Dd8 29.Dh8+ Ke7 30.Te1+ 1-0

 

   Insgesamt behandelt "Zwei Meister aus Seattle" natürlich ein sehr spezielles Thema und wird nicht jeden ansprechen. Wer neugierig ist, kann sich jedoch auf Entdeckungsreise durch etliches vorwiegend unbekanntes Partien-Material machen. Für den historisch Interessierten bietet sich ein Einstieg in eine weitgehend unbearbeitete Epoche, denn die Periode der deutschen Nachkriegsturniere harrt der Aufarbeitung. Meines Wissens beschäftigt sich nur das wenig verbreitete Heft von Frits Barkhuis: "Schach blüht aus den Ruinen" (1997 im Verlag Rochade Europa erschienen) mit diesem Zeitraum. Schwierige Zeiten manifestierten sich in Schicksalen: Die alten etablierten Meister versuchten nach dem Weltkrieg wieder Fuß zu fassen und ihren Lebensunterhalt zu sichern, neue Talente kamen auf, und in der im Umbruch befindlichen (Schach-)Weltordnung gaben Emigranten oft nur kurze Gastspiele, bis sie anderenorts vielleicht ihren Platz fanden. An den sehr bewegten und außergewöhnlichen Lebensläufen von Elmars Zemgalis und Olaf Ulvestad wird diese Zeit jedenfalls lebendig.

 

Eine zweite Meinung: Rezension von Harald Fietz.

 

 

Die CD stellte ChessBase, Mexikoring 35, 22297 Hamburg, für die Rezension zur Verfügung


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