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Der Prophet von Muggensturm

Eigentlich hätte Emil Joseph Diemer seinen 100. Geburtstag erleben müssen

Von FM Hartmut Metz, 26. Juli 2008

 

Obwohl er nicht einmal zum erweiterten Kreis der Großen des königlichen Spiels zählte, war sein Brett stets umlagert. Allein schon wegen seiner hageren Gestalt, mit weißem Bart und ins Gesicht und über die dicke Brille hängenden Strähnen fiel er in seinen letzten Lebensjahren auf. Doch noch mehr zog die Fans sein Spiel an: "Vom ersten Zug an auf Matt!" lautete die Maxime von Emil Joseph Diemer. Entsprechend schneidig schritt er zur Tat mit seinen 16 Figuren und opferte ohne Rücksicht auf Verluste. Häufig vergebens. Lamentierend stand er danach auf, klagte über sein "schlechtes" Augenlicht, jammerte - und marschierte in der nächsten Begegnung wieder genauso tollkühn voran.

In seiner beschränkten Sichtweise konnte Diemer nicht anders. Er verstand sich als Missionar und ging mit seinem Blackmar-Diemer-Gambit und als "Prophet von Muggensturm" immerhin in die Schach-Geschichte ein. Eigentlich hätte der in Radolfzell geborene und in Baden-Baden aufgewachsene Spieler am 15. Mai seinen 100. Geburtstag noch erleben müssen. Den eigenen Prophezeiungen zufolge harrten seiner 102 Lebensjahre. Doch der Zahlenmystiker starb anstatt 2010 bereits mit 82 am 10.10.1990 - wenigstens um 10.10 Uhr. "Wer der Ansicht ist, dass Schachspieler närrisch sind, wird durch das Studium des Lebens von Emil Joseph Diemer nicht auf andere Gedanken kommen", befand der niederländische Großmeister Hans Ree in einem Rückblick über den wahnsinnig gewordenen Kauz.

Das Schachspiel erlernte Diemer mit neun Jahren am Rastatter Gymnasialkonvikt von einem Schulkameraden. Sein Vater Emil Ludwig Otto Diemer, ein ins lothringische Metz versetzter Postbeamter, hatte ihn dorthin geschickt, um ihn 1917 etwas mehr fernzuhalten von den Kriegswirren. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs siedelte sich Familie Diemer in Baden-Baden an, wo Emil Joseph vollends mit dem Schachvirus infiziert wurde. Der Vater hatte offenbar viele alte Schachbücher, überdies lieferte sich der Junge in der Schule "heiße" Kämpfe mit seinem Kameraden Heinz Breitling. Letzterer gehörte auch zu den stärksten Meistern Badens und half der 1979 neu gegründeten Rochade Kuppenheim noch mit über 70 Jahren beim kometenhaften Aufstieg. Am humanistischen Gymnasium beschäftigten sie sich häufig unter der Schulbank mehr mit ihrem Duell als dem Schulstoff, erzählte Breitling einst schmunzelnd. Fürs Abitur reichte es aber dennoch beiden.

Nach dem Tod seiner Mutter, mutmaßt Michael Negele in einem fachkundigen Artikel in der Zeitschrift "Karl", verging Diemer wohl die Lust auf ein Studium. So trat er in Freiburg eine Lehre als Buchhändler bei der Herderschen Verlagsgesellschaft an. Immerhin konnte er im Breisgau seinem Hobby noch mehr frönen: Nicht nur, dass er der Betriebsschachgruppe des Verlags beitrat - auch alle fünf Freiburger Schachklubs durften sich eines neuen Mitglieds erfreuen ... Arbeitslos kehrte der mittlerweile 22-Jährige nach Baden-Baden zurück und studierte emsig die Schachliteratur. "Ende 1931 beschloss ich, Schachmeister zu werden", verkündete Diemer ungeachtet seiner kaum ausreichenden Spielstärke. Seinen Optimismus nährte offenbar die NSDAP, der er sich ebenfalls angeschlossen hatte - Vater Emil warf daraufhin den Filius aus dem Haus!

Diemer war wohl kein Antisemit, wie Negele ebenso wie der Straßburger Michel Roos feststellten, habe er doch stets "Umgang mit den jüdischen Schachspielern gepflegt". Der junge Eiferer sah wohl eher die einmalige Chance, das von den Nazis geförderte Denkspiel in alle "Volksteile hineinzutragen". Fortan verdingte sich der Baden-Badener als Berichterstatter nicht nur bei der WM 1934 zwischen Alexander Aljechin und dem Triberger Jefim Bogoljubow, die unter anderem in seiner Heimatstadt Station machte. Hans Ree schrieb über die Zeit: "Für sich selbst sorgen konnte Diemer nie gut, aber als Nazi ging es doch etwas bequemer. Nicht, dass er aus Opportunismus Mitglied der Partei geworden wäre. Er war ein Fanatiker in allem, was er tat. Ein heftiger Propagandist zu der Zeit, die die Nazis so romantisch die ,Kampfzeit' nannten, die Jahre vor der Machtübernahme. Durch seine neuen Freunde konnte Diemer Berufsschachspieler werden. Er wurde der ,Schachreporter des Großdeutschen Reichs', war bei allen großen internationalen Schachereignissen anwesend und sang in den Naziblättern das Lob des Kampfschachs. Viel Geld verdiente er nicht damit, obendrein war er abhängig von begüterten Bewunderern, die ihm ab und zu etwas zusteckten."

Sein erstes in Ungarn gedrucktes Bändchen verfasste EJD, wie sein Kürzel lautete, 1936 über die Schach-Olympiade in München. Erste kleinere Erfolge feierte der Journalist bei den legendären Turnieren im englischen Seebad Hastings, wo der Kurstädter das Major A gewann - ins Premiere-Reserveturnier erhielt der Nationalsozialist aber keine Einladung. Er wäre wohl zu schwach gewesen, denn beim Turnier im belgischen Ostende (1937) hatte er mit 1,5/6 als Letzter keine Chance gegen O'Kelly, Feigin und Devos. Nicht nur deswegen befand sich Diemers Stern im Sinken. Ab 1940 musste er - als untauglicher Schlaks, der sich bei Kriegsausbruch als Freiwilliger gemeldet hatte -gar wieder einer geregelten Arbeit als Betriebsprüfer beim Finanzamt Baden-Baden nachgehen! Ein Affront aus seiner Sicht, wie er später häufig hervorhob. Bei den Nazis fiel EJD auch in Ungnade, weil er Nachwuchsstar Klaus Junge einen "vergreisten Stil" und mangelndes "Kampfschach" vorwarf.

Ab 1947 wurde Diemer richtig aktiv. Er entdeckte das Blackmar-Gambit für sich. Anhand von zwölf eigenen Partien erläuterte er in der "Caissa/Fernschachpost" den Sinn des Bauernopfers nach 1.d4 d5 2.e4 dxe4 3.Sc3 Sf6 4.f3. Sogar Ex-Weltmeister Max Euwe beschäftigte sich als führender Eröffnungstheoretiker mit dem Gambit und führte den Namen Blackmar-Diemer-Gambit (BDG) ein - ein Missgeschick, das der Niederländer wahrscheinlich bald bereute. Diemer bombardierte ihn fortan mit Analysen. In Lindau, wo er das Schach am Bodensee belebte, trug EJD Zweikämpfe mit seinem Gambit aus, die dem Publikum kurzweilige Angriffspartien mit hübschen Mattmotiven bescherten. Allerdings lag dies auch meist an der fehlenden Gegenwehr der schwachen Kontrahenten Locher und Portz. Trotzdem fand Diemer mit Friedrich A. Stock einen Gönner. Der Hotelier, Vorsitzender des Freiburger SK 1887 und später auch des Südbadischen Schachverbandes, lockte ihn ins Breisgau. Der Mäzen finanzierte ihm gar die Teilnahme an der deutschen Meisterschaft 1949, die Diemers einzige bleiben sollte. Die zweite 1953 torpedierte der Pressewart des vereinigten Badischen Schachverbandes selbst. Nachdem EJD im Juli 1952 in Zürich seinen ersten internationalen Erfolg mit sieben Punkten nach neun Runden feierte, brach er mit Stock. Ein Fehler, denn so blieb ihm unter anderem die zugesagte Behandlung seines offenbar malträtierten Gebisses versagt. Der neue badische Verbandschef Karl "Charly" Weinspach wollte den "Publikumsmagneten" zu seiner Caissa Rastatt locken - gleichzeitig wäre Rivale Freiburg 1887 dadurch geschwächt worden. Beim Zwist zwischen Stock und Weinspach geriet Diemer zwischen die Fronten. Die Versprechungen aus Rastatt wurden nicht gehalten, weshalb Weinspach den Pressewart seines Verbandes weiter nach Muggensturm vermittelte. "Die Caissa konnte Diemer nicht finanzieren", erinnert sich der Muggensturmer Rolf Gräfinger. Von dem nahe am Bodensee gelegenen Scheidegg zog Diemer in das zwischen Karlsruhe und Baden-Baden gelegene Dorf. Das Röss'l galt als ein aufstrebender Verein. Vermutlich Redakteur Weinspach selbst schrieb in seiner Tageszeitung: Muggensturm sei "schon immer einer der aktivsten Vereine in Mittelbaden" und einer der größten dazu gewesen. "Und nun hat Meister Diemer seine Zelte in Muggensturm aufgeschlagen und gibt den Röss'l-Leuten neuen Auftrieb. Neben seinem Einsatz am ersten Brett hat der Club in erster Linie den Nutzen, von den Kenntnissen Diemers zu profitieren. Und das merkt man den meisten jungen Talenten bereits an. Überhaupt ist das Erfreuliche im Schachclub Röss'l, dass man fast durchweg junge Gesichter sieht, was zu berechtigten Hoffnungen für die Zukunft Anlass gibt", heißt es in dem Artikel aus dem Archiv des vieljährigen Röss'l-Vorsitzenden Albert Stoll.

Das Glück des badischen Pokalsiegers von 1953 währte nicht lange. "Wir fanden eine Witwe, die ein Zimmer samt Frühstück für Diemer zur Verfügung stellte", erinnert sich der damalige Röss'l-Vorsitzende Robert Kränkel heute noch genau, "er sollte uns trainieren. Aber er spielte nur mit wenigen von uns." Auch in den Mannschaftskämpfen kam Diemer kaum zum Einsatz - weil einige Gegner gleich das erste Brett kampflos abgaben ... Das führte unter anderem zu Streitigkeiten vor dem Verbandsgericht mit den Kuppenheimern Hermann Hettich jun. und sen. Das sollte jedoch ein Klacks bleiben im Vergleich zu dem Ärger, den sich Diemer mit dem Deutschen Schachbund (DSB) derweil eingehandelt hatte. Negele mutmaßt, dass sich EJD mit den Oberen anlegte, weil ein Länderkampf der deutschen Nationalmannschaft gegen Jugoslawien an Pfingsten in Rastatt platzte. Die Situation eskalierte, Diemer ging zu persönlichen Angriffen gegen DSB-Präsident Emil Dähne und seinen Adlatus Alfred Brinckmann über. Weil Letzterer ihn in einem Artikel auch nicht gerade mit Samthandschuhen angefasst hatte, zichtigte Diemer Brinckmann unter anderem der "Homosexualität", was dem enthaltsamen Gambitexperten wohl besonders gotteslästerlich erschien. Weil der Pressewart derlei auf Briefbögen des Badischen Schachverbands (BSV) setzte und dieser nicht gegen Diemer vorgehen wollte, "sperrte" Dähne kurzerhand den BSV. Weinspach gab danach klein bei und sperrte den badischen Pokalsieger. Besonders bitter für den Neu-Muggensturmer, hatte er sich doch auf die deutschen Titelkämpfe vorbereitet. Kränkel erinnert sich in diesem Zusammenhang: "Wir waren uns einig, dass Diemer uns in diesen Klamotten nicht vertreten konnte. Wir schickten ihn also mit seiner Schwester zum Einkaufen - doch Wochen später trug er wieder sein altes Zeug! Er erzählte mir: ,Die guten Sachen habe ich alle verkauft und konnte ein paar Wochen gut davon leben'. Ähnlich erging es uns, als wir ihm neue Schuhe kauften." Von Weinspach kam am 7. Dezember 1953 ein Schreiben an Diemer, in dem verkündet wurde: "Im Auftrag des Gesamtvorstandes des Badischen Schachverbandes muss ich Ihnen mitteilen, dass Sie anlässlich des außerordentlichen Kongresses des Deutschen Schachbundes am 6.12.1953 in Lindenfels in einer vorausgegangenen Vorstandssitzung des Verbandes aus dem Badischen Schachverband ausgeschlossen wurden. Grund: Sie haben sich nachweislich nicht an die Stuttgarter Einigung des Ehrenrats sowie an ausdrückliche Anweisungen der Verbandsleitung gehalten." Der DSB-Vorstand, der bis auf zwei Mitglieder zurückgetreten war, hatte sich mit seiner Forderung nach "voller Satisfaktion" durchgesetzt und kehrte zufrieden wieder in Amt und Würden zurück. Diemer durfte trotz einer Entschuldigung, die der DSB-Ehrenrat akzeptiert hatte, nicht mehr ans Brett. Kränkel ging als Vereinsboss dagegen vor, jedoch vergebens. Von Weinspach war er besonders enttäuscht, hatte dieser doch auch nie "die einst Diemer versprochene Krankenversicherung abgeschlossen".

Den Meister selbst scherte derlei wenig. Unverdrossen pilgerte er den "Emil-Joseph-Diemer-Weg, wie ihn die Muggensturmer angesichts seiner täglichen Nutzung nannten, nach Rastatt", erzählt Gräfinger. Manch einer hat ihn auch auf einem Fahrrad und mit Steckschach auf der Gabel in Erinnerung. Im sechs Kilometer entfernten Rastatt trat der 45-Jährige jedenfalls stets im Café Boos und im Café Moritz an. "Für Kaffee und Kuchen spielte er gegen alle", führt Gräfinger weiter aus. "Bei uns bekam er im Training ein Vesper und die Getränke. Alkohol trank Diemer keinen - aber Vesper haute er sich oft zwei, drei rein", ergänzt Kränkel und befindet mit Blick auf den bettelarmen Spieler, "für ihn gab es immer nur ein Leben - und das war Schach! Etwas anderes gab es für ihn nie!" Daher endete auch die Episode Muggensturm rasch wieder. Der Verein stand wegen des Mäzenatentums im kleinen Rahmen vor der Zerreißprobe. "Unser Mitglied Erwin Ockert hatte schon von Anfang an davor gewarnt. Ich sah als junger Bursche eben zunächst nur unser Schach. Schluss mit Diemer war jedoch für mich, als wir eine Arbeit für ihn gefunden hatten", setzt Gräfinger fort und ruft die ins Gedächtnis gebrannte Szene ab: "Als ich ihm das mit der Stelle im Wohnzimmer eröffnete, brüllte er nur: ,Ich lasse mich nicht zur Arbeit vergewaltigen!' Mit dem Satz war er für mich fertig!"

Diemer trat nie mehr für das Röss'l an. Vier Jahre, schätzen Gräfinger und Kränkel, mag der Fast-Fünfziger noch im Ort gewohnt haben. Umso erstaunlicher bleibt es, dass EJD vielen als "Muggensturmer" in Erinnerung blieb. So widmete der scharfzüngige niederländische Großmeister Jan Hein Donner 1958 Diemer einen hämischen Text mit dem Titel "Der Prophet von Muggensturm" (auch nachzulesen in seinem unterhaltsamen englischsprachigen Werk "The King"). "Diemer mag verrückt sein", befand Donner angesichts all der Ausrufezeichen in Diemers Standardwerk "Vom ersten Zug an auf Matt", "aber sein Stil ist nicht komplett verrückt, sondern äußerst instruktiv!" Feinheiten wie den Kampf gegen den isolierten Bauern könne der Leser zwar dadurch nicht lernen, allerdings die Hatz auf den König. Dass die Bezeichnung "Prophet" im Zusammenhang mit dem später dem Wahn verfallenden Diemer eine andere Bedeutung bekommen sollte, ahnte Donner vor 50 Jahren wohl kaum.

Sein Faible für die Niederlande entwickelte EJD aber nicht wegen der kleinen Anerkennung durch den Großmeister, sondern durch drei dortige Turniersiege und seine treue Fan-Gemeinde. Sie führte zum Druck seines Buchs "Vom ersten Zug an auf Matt" im Amsterdamer Verlag Ten Have Verlag. Das Werk wurde allemal erfolgreicher als sein 1956 nach nur einem Jahr eingestelltes Magazin "Die Blackmar-Gemeinde". Die Pause in Deutschland beflügelte zum einen seinen Schaffensdrang bezüglich des Blackmar-Diemer-Gambits (BDG), zum anderen trumpfte er 1956 im Ausland auf: Als größter Erfolg im Alter von 48 Jahren muss wohl sein Sieg in der B-Gruppe im Hochofen-Turnier (dem heutigen Corus-Superturnier in Wijk aan Zee) gelten. Außerdem setzte sich der Muggensturmer in der Offenen Meisterschaft der Niederlande durch und belegte in der Schweiz einen beachtlichen zweiten Platz. 1957 gewann Diemer überdies einen Wettbewerb in Zwolle. Hans Ree schrieb vor etwas mehr als zehn Jahren im "Kaissiber" in einer Buchkritik dazu: "Dieses Jahr erschien im Verlag Manfred Mädler eine Biographie von Diemer, verfasst von einem seiner treuesten Anhänger, Georg Studier: ,Emil Joseph Diemer. Ein Leben für das Schach im Spiegel der Zeiten.' Eine Biographie von 280 Seiten. Es gibt Weltmeister, die darauf noch warten ... In seinen besten Zeiten würde er ein mäßiger Meister genannt werden können. Sehr stark war Diemer nicht. Doch hatte er in den 50er und 60er Jahren eine Schar Anhänger, in Deutschland und auch in den Niederlanden. Er war der Prophet des wüsten Angriffsspiels. ,Spielt Blackmar-Diemer-Gambit und das Matt kommt von selbst!', schrieb er. ,Das Blackmar-Diemer-Gambit verändert den ganzen Menschen!' Er glaubte das."

Das Gambit und seine exzessive Beschäftigung veränderte offensichtlich auch Diemer. Er wurde zunehmend verrückter. Im Online-Lexikon Wikipedia heißt es vornehm zurückhaltend: "Nach dem Krieg wandte sich Diemer esoterischen Themen zu, insbesondere der Numerologie, der Reinkarnationslehre, Biorhythmen und den Prophezeiungen des Nostradamus." Die medizinische Diagnose über Diemer lautete 1965 bei der Unterbringung im Kreispflegeheim Fußbach klarer: "Prophetenwahn bei alter paranoid-halluzinatorischer Psychose". Linderung brachte der Aufenthalt dort nicht. Der Autor dieser Zeilen erinnert sich daran, dass ihm Jahrzehnte später durch eine Schachzeitung Diemers "Berechnungen" zugeleitet wurden mit der Bitte, doch darüber etwas zu veröffentlichen. Doch was sollte man über sinnlose Zahlenverbindungen samt der vermeintlichen Nostradamus-Prophezeiung schreiben, die vom anstehenden Weltuntergang durch das damalige Sowjet-Oberhaupt Michail Gorbatschow kündete? Ans Schachbrett kehrte Diemer immerhin 1971 zurück. Der Vorsitzende des SC Umkirch, Uwe Stapelfeldt, hatte nicht nur gute Kontakte zum Kreispflegeheim im Gengenbacher Ortsteil Fußbach. Er schaffte es auch, die Sperre Diemers beim DSB nach 18 Jahren aufzuheben! Ab da pilgerte der alte Recke aus der Ortenau ins nur ein paar Kilometer von Freiburg entfernte Umkirch. Bis 1985 saß Diemer am ersten Brett des Vereins und trug maßgeblich zu deren Meisterschaften bei.

Bei den Badischen Schachkongressen fielen die Ergebnisse Diemers im hohen Alter immer schwankender aus. Dass der Rauschebart dennoch mit allen Wassern gewaschen war, verdeutlicht ein Erlebnisbericht eines weiteren Muggensturmers, Jürgen Gersinska, dem Ehemann von Großmeisterin Ketino Kachiani-Gersinska: "Beim Kongress stand Diemer gegen einen jungen Burschen auf Verlust. Diemer ließ die Bedenkzeit ablaufen, während sich eine Traube von Kiebitzen um das Brett versammelte. Plötzlich streckte Diemer die Hand aus, sein Kontrahent mutmaßte die Aufgabe und ergriff sie. Diemer verkündete daraufhin laut: ,Ich nehme Ihr Remisangebot an!' Der Gegner war verzweifelt, zumal Diemer einen älteren Herrn als Zeugen benannte, der das Remisangebot gehört haben sollte!" Der badische Turnierleiter Karl-Heinz Saffran war jedoch ein Fuchs - und entschied am Abend gegen Diemer, obwohl dieser sein Vereinskamerad in Umkirch war. Gersinska erzählt weiter: "Saffran hatte in Erfahrung gebracht, dass der zwielichtige Zeuge aus Gaggenau nicht nur schwerhörig war - er hatte just an diesem Tag sein Hörgerät zu Hause vergessen ..."

In lichten Momenten konnte Diemer aber noch immer großes Schach zeigen! Sein vielleicht legendärster Sieg ist jener aus dem Jahre 1984, als er mit Weiß in den ersten 17 Zügen nur Bauern bewegte - und am Schluss dennoch im großen Stil gewann! Es ist allerdings Unfug, dass dieses Kleinod Diemers letzte Partie gewesen sein soll. Er spielte zumindest noch beim Badischen Schachkongress im Meister-B-Turnier 1985 in Donaueschingen. Eine klägliche Niederlage gegen einen anderen Baden-Badener Altmeister, Robert Sutterer, findet sich beispielsweise in der Mega-Datenbank von Chessbase. Der Autor erinnert sich auch noch, dass er damals am Bücherstand des Fußbachers ein Werk von Emanuel Lasker suchte. Der davon entzückte Diemer hatte es zwar nicht vorrätig, versprach es aber umgehend von zu Hause zuzusenden. Tatsächlich traf das Lasker-Buch mit seiner Widmung rasch ein. Dank seines großzügig gewährten Rabatts und Übernahme der Portokosten dürfte er nicht viel daran verdient haben - Emil Joseph Diemer blieb eben zeitlebens mehr ein begeisterter Schachspieler als ein Geschäftsmann ...

Die bisherigen Berichte zu Diemers 100. Geburtstag:

Ein wahnsinniger Missionar des Matts
Der Prophet von Muggensturm
Diemer greift an mit 17 Bauernzügen in Folge


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